Kant: AA VIII, Zum ewigen Frieden. Ein ... , Seite 354

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01
Zweiter Definitivartikel zum ewigen Frieden.
     
  02
Das Völkerrecht soll auf einen Föderalism freier Staaten gegründet sein.
     
           
  03 Völker als Staaten können wie einzelne Menschen beurtheilt werden,      
  04 die sich in ihrem Naturzustande (d. i. in der Unabhängigkeit von äußern      
  05 Gesetzen) schon durch ihr Nebeneinandersein lädiren, und deren jeder um      
  06 seiner Sicherheit willen von dem andern fordern kann und soll, mit ihm      
  07 in eine der bürgerlichen ähnliche Verfassung zu treten, wo jedem sein      
  08 Recht gesichert werden kann. Die wäre ein Völkerbund, der aber      
  09 gleichwohl kein Völkerstaat sein müßte. Darin aber wäre ein Widerspruch:      
  10 weil ein jeder Staat das Verhältniß eines Oberen (Gesetzgebenden)      
  11 zu einem Unteren (Gehorchenden, nämlich dem Volk) enthält, viele      
  12 Völker aber in einem Staate nur ein Volk ausmachen würden, welches      
  13 (da wir hier das Recht der Völker gegen einander zu erwägen haben, so      
  14 fern sie so viel verschiedene Staaten ausmachen und nicht in einem Staat      
  15 zusammenschmelzen sollen) der Voraussetzung widerspricht.      
           
  16 Gleichwie wir nun die Anhänglichkeit der Wilden an ihre gesetzlose      
  17 Freiheit, sich lieber unaufhörlich zu balgen, als sich einem gesetzlichen, von      
  18 ihnen selbst zu constituirenden Zwange zu unterwerfen, mithin die tolle      
  19 Freiheit der vernünftigen vorzuziehen, mit tiefer Verachtung ansehen und      
  20 als Rohigkeit, Ungeschliffenheit und viehische Abwürdigung der Menschheit      
  21 betrachten, so, sollte man denken, müßten gesittete Völker (jedes für      
  22 sich zu einem Staat vereinigt) eilen, aus einem so verworfenen Zustande      
  23 je eher desto lieber herauszukommen: statt dessen aber setzt vielmehr jeder      
  24 Staat seine Majestät (denn Volksmajestät ist ein ungereimter Ausdruck)      
  25 gerade darin, gar keinem äußeren gesetzlichen Zwange unterworfen zu      
  26 sein, und der Glanz seines Oberhaupts besteht darin, daß ihm, ohne da      
  27 er sich eben selbst in Gefahr setzen darf, viele Tausende zu Gebot stehen,      
  28 sich für eine Sache, die sie nichts angeht, aufopfern zu lassen*), und der      
  29 Unterschied der europäischen Wilden von den amerikanischen besteht hauptsächlich      
  30 darin, daß, da manche Stämme der letzteren von ihren Feinden      
  31 gänzlich sind gegessen worden, die ersteren ihre Überwundene besser zu      
  32 benutzen wissen, als sie zu verspeisen, und lieber die Zahl ihrer Unterthanen,      
           
    *) So gab ein bulgarischer Fürst dem griechischen Kaiser, der gutmüthigerweise seinen Streit mit ihm durch einen Zweikampf ausmachen wollte, zur Antwort: "Ein Schmid, der Zangen hat, wird das glühende Eisen aus den Kohlen nicht mit seinen Händen herauslangen."      
           
     

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