Kant: AA VIII, Über den Gemeinspruch Das ... , Seite 304

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Beleidigten ein Zwangsrecht gegen denjenigen einräumt, der ihm      
  02 Unrecht thut; aber so im Allgemeinen ist der Satz erschrecklich.      
           
  03 Der nicht=widerspenstige Unterthan muß annehmen können, sein      
  04 Oberherr wolle ihm nicht Unrecht thun. Mithin da jeder Mensch doch      
  05 seine unverlierbaren Rechte hat, die er nicht einmal aufgeben kann, wenn er      
  06 auch wollte, und über die er selbst zu urtheilen befugt ist; das Unrecht aber,      
  07 welches ihm seiner Meinung nach widerfährt, nach jener Voraussetzung      
  08 nur aus Irrthum oder Unkunde gewisser Folgen aus Gesetzen der obersten      
  09 Macht geschieht: so muß dem Staatsbürger und zwar mit Vergünstigung      
  10 des Oberherrn selbst die Befugniß zustehen, seine Meinung über das, was      
  11 von den Verfügungen desselben ihm ein Unrecht gegen das gemeine Wesen      
  12 zu sein scheint, öffentlich bekannt zu machen. Denn daß das Oberhaupt      
  13 auch nicht einmal irren, oder einer Sache unkundig sein könne, anzunehmen,      
  14 würde ihn als mit himmlischen Eingebungen begnadigt und über      
  15 die Menschheit erhaben vorstellen. Also ist die Freiheit der Feder - in      
  16 den Schranken der Hochachtung und Liebe für die Verfassung, worin man      
  17 lebt, durch die liberale Denkungsart der Unterthanen, die jene noch dazu      
  18 selbst einflößt, gehalten (und dahin beschränken sich auch die Federn      
  19 einander von selbst, damit sie nicht ihre Freiheit verlieren), - das einzige      
  20 Palladium der Volksrechte. Denn diese Freiheit ihm auch absprechen zu      
  21 wollen, ist nicht allein so viel, als ihm allen Anspruch auf Recht in Ansehung      
  22 des obersten Befehlshabers (nach Hobbes) nehmen, sondern      
  23 auch dem letzteren, dessen Wille bloß dadurch, daß er den allgemeinen      
  24 Volkswillen repräsentirt, Unterthanen als Bürgern Befehle giebt,      
  25 alle Kenntniß von dem entziehen, was, wenn er es wüßte, er selbst      
  26 abändern würde, und ihn mit sich selbst in Widerspruch setzen. Dem Oberhaupte      
  27 aber Besorgniß einzuflößen, daß durch Selbst= und Lautdenken Unruhen      
  28 im Staate erregt werden dürften, heißt so viel, als ihm Mißtrauen      
  29 gegen seine eigene Macht, oder auch Haß gegen sein Volk erwecken.      
  30 Das allgemeine Princip aber, wornach ein Volk seine Rechte negativ,      
  31 d. i. bloß zu beurtheilen hat, was von der höchsten Gesetzgebung      
  32 als mit ihrem besten Willen nicht verordnet anzusehen sein möchte, ist      
  33 in dem Satz enthalten: Was ein Volk über sich selbst nicht beschließen      
  34 kann, das kann der Gesetzgeber auch nicht über das      
  35 Volk beschließen.      
           
  36 Wenn also z. B. die Frage ist: ob ein Gesetz, das eine gewisse einmal      
  37 angeordnete kirchliche Verfassung für beständig fortdaurend anbeföhle,      
           
     

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