Kant: AA VIII, Über den Gemeinspruch Das ... , Seite 302

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 acceptirten und von beiden sanctionirten Vertrags anzutreffen ist, sie die      
  02 Idee von einem ursprünglichen Vertrag, die immer in der Vernunft zum      
  03 Grunde liegt, als Etwas, welches wirklich geschehen sein müsse, annahmen      
  04 und so dem Volke immer die Befugniß zu erhalten meinten, davon bei      
  05 einer groben, aber von ihm selbst dafür beurtheilten Verletzung nach seinem      
  06 Gutdünken abzugehen*).      
           
  07 Man sieht hier offenbar, was das Princip der Glückseligkeit (welche      
  08 eigentlich gar keines bestimmten Princips fähig ist) auch im Staatsrecht      
  09 für Böses anrichtet, so wie es solches in der Moral thut, auch selbst bei      
  10 der besten Meinung, die der Lehrer desselben beabsichtigt. Der Souverän      
  11 will das Volk nach seinen Begriffen glücklich machen und wird Despot;      
  12 das Volk will sich den allgemeinen menschlichen Anspruch auf eigene Glückseligkeit      
  13 nicht nehmen lassen und wird Rebell. Wenn man zu allererst gefragt      
  14 hätte, was Rechtens ist (wo die Principien a priori feststehen, und      
  15 kein Empiriker darin pfuschen kann): so würde die Idee des Socialcontracts      
  16 in ihrem unbestreitbaren Ansehen bleiben; aber nicht als Factum (wie      
  17 Danton will, ohne welches er alle in der wirklich existirenden bürgerlichen      
  18 Verfassung befindliche Rechte und alles Eigenthum für null und      
  19 nichtig erklärt), sondern nur als Vernunftprincip der Beurtheilung aller      
  20 öffentlichen rechtlichen Verfassung überhaupt. Und man würde einsehen:      
  21 daß, ehe der allgemeine Wille da ist, das Volk gar kein Zwangsrecht gegen      
  22 seinen Gebieter besitze, weil es nur durch diesen rechtlich zwingen kann;      
  23 ist jener aber da, eben sowohl kein von ihm gegen diesen auszuübender      
  24 Zwang Statt finde, weil es alsdann selbst der oberste Gebieter wäre;      
  25 mithin dem Volk gegen das Staatsoberhaupt nie ein Zwangsrecht (Widersetzlichkeit      
  26 in Worten oder Werken) zukomme.      
           
           
    *) Es mag auch immer der wirkliche Vertrag des Volks mit dem Oberherren verletzt sein: so kann dieses doch alsdann nicht sofort als gemeines Wesen, sondern nur durch Rottirung entgegenwirken. Denn die bisher bestandene Verfassung war vom Volk zerrissen; die Organisation aber zu einem neuen gemeinen Wesen sollte allererst noch geschehen. Hier tritt nun der Zustand der Anarchie mit allen ihren Greueln ein, die wenigstens dadurch möglich sind; und das Unrecht, welches hier geschieht, ist alsdann das, was eine jede Partei der andern im Volke zufügt: wie auch aus dem angeführten Beispiel erhellt, wo die aufrührerischen Unterthanen jenes Staats zuletzt einander mit Gewalt eine Verfassung aufdringen wollten, die weit drückender geworden wäre als die, welche sie verließen; nämlich von Geistlichen und Aristokraten verzehrt zu werden, statt daß sie unter einem Alle beherrschenden Oberhaupt mehr Gleichheit in Vertheilung der Staatsbürden erwarten konnten.      
           
     

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