Kant: AA VIII, Über den Gemeinspruch Das ... , Seite 285

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 anderer Triebfedern) ausgeübt haben; vielleicht wird auch nie      
  02 einer bei der größten Bestrebung so weit gelangen. Aber so viel er bei      
  03 der sorgfältigsten Selbstprüfung in sich wahrnehmen kann, nicht allein      
  04 keiner solchen mitwirkenden Motive, sondern vielmehr der Selbstverläugnung      
  05 in Ansehung vieler der Idee der Pflicht entgegenstehenden, mithin      
  06 der Maxime zu jener Reinigkeit hinzustreben sich bewußt zu werden: das      
  07 vermag er; und das ist auch für seine Pflichtbeobachtung genug. Hingegen      
  08 die Begünstigung des Einflusses solcher Motive sich zur Maxime      
  09 zu machen, unter dem Vorwande, daß die menschliche Natur eine solche      
  10 Reinigkeit nicht verstatte (welches er doch auch nicht mit Gewißheit behaupten      
  11 kann): ist der Tod aller Moralität.      
           
  12 Was nun das kurz vorhergehende Bekenntniß des Hrn. G. betrifft,      
  13 jene Theilung (eigentlich Sonderung) nicht in seinem Herzen zu finden:      
  14 so trage ich kein Bedenken, ihm in seiner Selbstbeschuldigung geradezu zu      
  15 widersprechen und sein Herz wider seinen Kopf in Schutz zu nehmen. Er,      
  16 der rechtschaffene Mann, fand sie wirklich jederzeit in seinem Herzen (in      
  17 seinen Willensbestimmungen); aber sie wollte sich nur nicht zum Behuf      
  18 der Speculation und zur Begreifung dessen, was unbegreiflich (unerklärlich)      
  19 ist, nämlich der Möglichkeit kategorischer Imperative (dergleichen die der      
  20 Pflicht sind), in seinem Kopf mit den gewohnten Principien psychologischer      
  21 Erklärungen (die insgesammt den Mechanism der Naturnothwendigkeit      
  22 zum Grunde legen) zusammen reimen*).      
           
  23 Wenn aber Hr. G. zuletzt sagt: "Solche feine Unterschiede der Ideen      
  24 verdunkeln sich schon im Nachdenken über particuläre Gegenstände;      
  25 aber sie verlieren sich gänzlich, wenn es aufs Handeln ankommt,      
           
    *) Hr. P. Garve thut (in seinen Anmerkungen zu Cicero's Buch von den Pflichten S. 69. Ausg. von 1783) das merkwürdige und seines Scharfsinns werthe Bekenntniß: "Die Freiheit werde nach seiner innigsten Überzeugung immer unauflöslich bleiben und nie erklärt werden". Ein Beweis von ihrer Wirklichkeit kann schlechterdings nicht, weder in einer unmittelbaren noch mittelbaren Erfahrung, angetroffen werden; und ohne allen Beweis kann man sie doch auch nicht annehmen. Da nun ein Beweis derselben nicht aus bloß theoretischen Gründen (denn diese würden in der Erfahrung gesucht werden müssen), mithin aus bloß praktischen Vernunftsätzen, aber auch nicht aus technisch=praktischen (denn die würden wieder Erfahrungsgründe erfordern), folglich nur aus moralisch=praktischen geführt werden kann: so muß man sich wundern, warum Hr. G. nicht zum Begriffe der Freiheit seine Zuflucht nahm, um wenigstens die Möglichkeit solcher Imperativen zu retten.      
           
     

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