Kant: AA VIII, Was heißt: Sich im Denken ... , Seite 135

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 diese zwei Seiten äußerlich in der Anschauung keinen merklichen Unterschied      
  02 zeigen. Ohne dieses Vermögen: in der Beschreibung eines Cirkels,      
  03 ohne an ihm irgend eine Verschiedenheit der Gegenstände zu bedürfen,      
  04 doch die Bewegung von der Linken zur Rechten von der in entgegengesetzter      
  05 Richtung zu unterscheiden und dadurch eine Verschiedenheit in der      
  06 Lage der Gegenstände a priori zu bestimmen, würde ich nicht wissen, ob      
  07 ich Westen dem Südpunkte des Horizonts zur Rechten oder zur Linken      
  08 setzen und so den Kreis durch Norden und Osten bis wieder zu Süden      
  09 vollenden sollte. Also orientire ich mich geographisch bei allen objectiven      
  10 Datis am Himmel doch nur durch einen subjectiven Unterscheidungsgrund;      
  11 und wenn in einem Tage durch ein Wunder alle Sternbilder      
  12 zwar übrigens dieselbe Gestalt und eben dieselbe Stellung gegen      
  13 einander behielten, nur daß die Richtung derselben, die sonst östlich war,      
  14 jetzt westlich geworden wäre, so würde in der nächsten sternhellen Nacht      
  15 zwar kein menschliches Auge die geringste Veränderung bemerken, und      
  16 selbst der Astronom, wenn er bloß auf das, was er sieht, und nicht zugleich,      
  17 was er fühlt, Acht gäbe, würde sich unvermeidlich desorientiren.      
  18 So aber kommt ihm ganz natürlich das zwar durch die Natur angelegte,      
  19 aber durch öftere Ausübung gewohnte Unterscheidungsvermögen durchs      
  20 Gefühl der rechten und linken Hand zu Hülfe; und er wird, wenn er nur den      
  21 Polarstern ins Auge nimmt, nicht allein die vorgegangene Veränderung      
  22 bemerken, sondern sich auch ungeachtet derselben orientiren können.      
           
  23 Diesen geographischen Begriff des Verfahrens sich zu orientiren kann      
  24 ich nun erweitern und darunter verstehen: sich in einem gegebenen Raum      
  25 überhaupt, mithin bloß mathematisch orientiren. Im Finstern orientire      
  26 ich mich in einem mir bekannten Zimmer, wenn ich nur einen einzigen      
  27 Gegenstand, dessen Stelle ich im Gedächtniß habe, anfassen kann. Aber      
  28 hier hilft mir offenbar nichts als das Bestimmungsvermögen der Lagen      
  29 nach einem subjectiven Unterscheidungsgrunde: denn die Objecte, deren      
  30 Stelle ich finden soll, sehe ich gar nicht; und hätte jemand mir zum Spaße      
  31 alle Gegenstände zwar in derselben Ordnung unter einander, aber links      
  32 gesetzt, was vorher rechts war, so würde ich mich in einem Zimmer, wo      
  33 sonst alle Wände ganz gleich wären, gar nicht finden können. So aber      
  34 orientire ich mich bald durch das bloße Gefühl eines Unterschiedes meiner      
  35 zwei Seiten, der rechten und der linken. Eben das geschieht, wenn ich zur      
  36 Nachtzeit auf mir sonst bekannten Straßen, in denen ich jetzt kein Haus      
  37 unterscheide, gehen und mich gehörig wenden soll.      
           
           
     

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