Kant: AA VIII, Was heißt: Sich im Denken ... , Seite 133

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Wir mögen unsre Begriffe noch so hoch anlegen und dabei noch so      
  02 sehr von der Sinnlichkeit abstrahiren, so hängen ihnen doch noch immer      
  03 bildliche Vorstellungen an, deren eigentliche Bestimmung es ist, sie, die      
  04 sonst nicht von der Erfahrung abgeleitet sind, zum Erfahrungsgebrauche      
  05 tauglich zu machen. Denn wie wollten wir auch unseren Begriffen      
  06 Sinn und Bedeutung verschaffen, wenn ihnen nicht irgend eine      
  07 Anschauung (welche zuletzt immer ein Beispiel aus irgend einer möglichen      
  08 Erfahrung sein muß) untergelegt würde? Wenn wir hernach von dieser      
  09 concreten Verstandeshandlung die Beimischung des Bildes, zuerst der zufälligen      
  10 Wahrnehmung durch Sinne, dann sogar die reine sinnliche Anschauung      
  11 überhaupt weglassen: so bleibt jener reine Verstandesbegriff      
  12 übrig, dessen Umfang nun erweitert ist und eine Regel des Denkens überhaupt      
  13 enthält. Auf solche Weise ist selbst die allgemeine Logik zu Stande      
  14 gekommen; und manche heuristische Methode zu denken liegt in dem      
  15 Erfahrungsgebrauche unseres Verstandes und der Vernunft vielleicht noch      
  16 verborgen, welche, wenn wir sie behutsam aus jener Erfahrung herauszuziehen      
  17 verständen, die Philosophie wohl mit mancher nützlichen Maxime      
  18 selbst im abstracten Denken bereichern könnte.      
           
  19 Von dieser Art ist der Grundsatz, zu dem der sel. Mendelssohn, so      
  20 viel ich weiß, nur in seinen letzten Schriften (den Morgenstunden      
  21 S. 164 - 65 und dem Briefe an Lessings Freunde S. 33 und 67) sich      
  22 ausdrücklich bekannte; nämlich die Maxime der Nothwendigkeit, im speculativen      
  23 Gebrauche der Vernunft (welchem er sonst in Ansehung der Erkenntniß      
  24 übersinnlicher Gegenstände sehr viel, sogar bis zur Evidenz der      
  25 Demonstration, zutraute) durch ein gewisses Leitungsmittel, welches er      
  26 bald den Gemeinsinn (Morgenstunden), bald die gesunde Vernunft,      
  27 bald den schlichten Menschenverstand (an Lessings Freunde) nannte,      
  28 sich zu orientiren. Wer hätte denken sollen, daß dieses Geständniß nicht      
  29 allein seiner vortheilhaften Meinung von der Macht des speculativen      
  30 Vernunftgebrauchs in Sachen der Theologie so verderblich werden sollte      
  31 (welches in der That unvermeidlich war); sondern daß selbst die gemeine      
           
     

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