Kant: AA VIII, Recension von Gottlieb ... , Seite 128

     
           
 

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  01 eigenen Systems, der dieses Werk charakterisirt, vom achten Abschnitte an      
  02 auszuheben und seine Quelle sowohl als die Bestimmung anzuzeigen.      
  03 Der Verfasser hält nämlich Principien, die blos die Form des freien      
  04 Willens unangesehen alles Objects bestimmen, nicht für hinreichend zum      
  05 praktischen Gesetze und also, um Verbindlichkeit davon abzuleiten. Daher      
  06 sucht er zu jenen formalen Regeln eine Materie, d. i. ein Object, welches      
  07 als der höchste Zweck eines vernünftigen Wesens, den ihm die Natur der      
  08 Dinge vorschreibt, als ein Postulat angenommen werden könne, und setzt      
  09 es in der Vervollkommnung desselben. Daher der oberste praktische      
  10 Grundsatz: Befördere die Vollkommenheit aller empfindenden, vorzüglich      
  11 der vernünftigen Wesen, - also auch deine eigene; woraus denn der Satz:      
  12 Verhindere die Verminderung derselben an andern, - vorzüglich an dir      
  13 selbst (so fern andere davon die Ursache sein möchten), welches letztere einen      
  14 Widerstand, mithin einen Zwang offenbar in sich schließt.      
           
  15 Das Eigenthümliche des Systems unsers Verfassers besteht nun      
  16 darin, daß er den Grund alles Naturrechts und aller Befugniß in einer vorhergehenden      
  17 natürlichen Verbindlichkeit setzt, und daß der Mensch darum      
  18 befugt sei andere zu zwingen, weil er hiezu (nach dem letzten Theile des      
  19 Grundsatzes) verbunden ist; anders, glaubt er, könne die Befugniß zum      
  20 Zwange nicht erklärt werden. Ob er nun gleich die ganze Wissenschaft      
  21 natürlicher Rechte auf Verbindlichkeiten gründet, so warnt er doch, darunter      
  22 nicht die Verbindlichkeit anderer, unserm Recht eine Gnüge zu leisten, zu      
  23 verstehen (Hobbes merkt schon an, daß, wo der Zwang unsere Ansprüche begleitet,      
  24 keine Verbindlichkeit anderer, sich diesem Zwange zu unterwerfen,      
  25 mehr gedacht werden könne). Hieraus schließt er, daß die Lehre von den Verbindlichkeiten      
  26 im Naturrecht überflüssig sei und oft mißleiten könne. Hierin      
  27 tritt Recensent dem Verfasser gerne bei. Denn die Frage ist hier nur,      
  28 unter welchen Bedingungen ich den Zwang ausüben könne, ohne den allgemeinen      
  29 Grundsätzen des Rechts zu widerstreiten; ob der andere nach eben      
  30 denselben Grundsätzen sich passiv verhalten oder reagiren dürfe, ist seine      
  31 Sache zu untersuchen, so lange nämlich alles im Naturzustande betrachtet      
  32 wird, denn im bürgerlichen ist dem Richterspruche, der das Recht dem einen      
  33 Theil zuerkennt, jederzeit eine Verbindlichkeit des Gegners correspondirend.      
  34 Auch hat diese Bemerkung im Naturrecht ihren großen Nutzen, um den      
  35 eigentlichen Rechtsgrund nicht durch Einmengung ethischer Fragen zu verwirren.      
  36 Allein daß die Befugniß zu zwingen sogar eine Verbindlichkeit      
  37 dazu, welche uns von der Natur selbst auferlegt sei, durchaus zum Grunde      
           
     

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