Kant: AA VIII, Muthmaßlicher Anfang der ... , Seite 112

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 als eines Vermögens bewußt zu werden, das sich über die Schranken,      
  02 worin alle Thiere gehalten werden, erweitern kann, war sehr wichtig und      
  03 für die Lebensart entscheidend. Wenn es also auch nur eine Frucht gewesen      
  04 wäre, deren Anblick durch die Ähnlichkeit mit anderen annehmlichen,      
  05 die man sonst gekostet hatte, zum Versuche einladete; wenn dazu noch etwa      
  06 das Beispiel eines Thieres kam, dessen Natur ein solcher Genuß angemessen,      
  07 so wie er im Gegentheil dem Menschen nachtheilig war, daß folglich      
  08 in diesem ein sich dawider setzender natürlicher Instinct war: so      
  09 konnte dieses schon der Vernunft die erste Veranlassung geben, mit der      
  10 Stimme der Natur zu chikaniren (III, 1) und trotz ihrem Widerspruch      
  11 den ersten Versuch von einer freien Wahl zu machen, der als der erste      
  12 wahrscheinlicherweise nicht der Erwartung gemäß ausfiel. Der Schade      
  13 mochte nun gleich so unbedeutend gewesen sein, als man will, so gingen      
  14 dem Menschen hierüber doch die Augen auf (V. 7). Er entdeckte in sich      
  15 ein Vermögen, sich selbst eine Lebensweise auszuwählen und nicht gleich      
  16 anderen Thieren an eine einzige gebunden zu sein. Auf das augenblickliche      
  17 Wohlgefallen, das ihm dieser bemerkte Vorzug erwecken mochte, mußte      
  18 doch sofort Angst und Bangigkeit folgen: wie er, der noch kein Ding nach      
  19 seinen verborgenen Eigenschaften und entfernten Wirkungen kannte, mit      
  20 seinem neu entdeckten Vermögen zu Werke gehen sollte. Er stand gleichsam      
  21 am Rande eines Abgrundes; denn aus einzelnen Gegenständen      
  22 seiner Begierde, die ihm bisher der Instinct angewiesen hatte, war ihm      
  23 eine Unendlichkeit derselben eröffnet, in deren Wahl er sich noch gar nicht      
  24 zu finden wußte; und aus diesem einmal gekosteten Stande der Freiheit      
  25 war es ihm gleichwohl jetzt unmöglich, in den der Dienstbarkeit (unter der      
  26 Herrschaft des Instincts) wieder zurück zu kehren.      
           
  27 Nächst dem Instinct zur Nahrung, durch welchen die Natur jedes      
  28 Individuum erhält, ist der Instinct zum Geschlecht, wodurch sie für      
  29 die Erhaltung jeder Art sorgt, der vorzüglichste. Die einmal rege gewordene      
  30 Vernunft säumte nun nicht, ihren Einfluß auch an diesem zu beweisen.      
  31 Der Mensch fand bald: daß der Reiz des Geschlechts, der bei den      
  32 Thieren bloß auf einem vorübergehenden, größtentheils periodischen      
  33 Antriebe beruht, für ihn der Verlängerung und sogar Vermehrung durch      
  34 die Einbildungskraft fähig sei, welche ihr Geschäft zwar mit mehr      
  35 Mäßigung, aber zugleich dauerhafter und gleichförmiger treibt, je mehr      
  36 der Gegenstand den Sinnen entzogen wird, und daß dadurch der Überdru      
  37 verhütet werde, den die Sättigung einer bloß thierischen Begierde      
           
     

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