Kant: AA VIII, Muthmaßlicher Anfang der ... , Seite 109

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Im Fortgange einer Geschichte Muthmaßungen einzustreuen,      
  02 um Lücken in den Nachrichten auszufüllen, ist wohl erlaubt: weil das      
  03 Vorhergehende als entfernte Ursache und das Nachfolgende als Wirkung      
  04 eine ziemlich sichere Leitung zur Entdeckung der Mittelursachen abgeben      
  05 kann, um den Übergang begreiflich zu machen. Allein eine Geschichte      
  06 ganz und gar aus Muthmaßungen entstehen zu lassen, scheint nicht viel      
  07 besser, als den Entwurf zu einem Roman zu machen. Auch würde sie      
  08 nicht den Namen einer muthmaßlichen Geschichte, sondern einer      
  09 bloßen Erdichtung führen können. - Gleichwohl kann das, was im      
  10 Fortgange der Geschichte menschlicher Handlungen nicht gewagt werden      
  11 darf, doch wohl über den ersten Anfang derselben, so fern ihn die      
  12 Natur macht, durch Muthmaßung versucht werden. Denn dieser darf      
  13 nicht erdichtet, sondern kann von der Erfahrung hergenommen werden,      
  14 wenn man voraussetzt, daß diese im ersten Anfange nicht besser oder      
  15 schlechter gewesen, als wir sie jetzt antreffen: eine Voraussetzung, die der      
  16 Analogie der Natur gemäß ist und nichts Gewagtes bei sich führt. Eine      
  17 Geschichte der ersten Entwickelung der Freiheit aus ihrer ursprünglichen      
  18 Anlage in der Natur des Menschen ist daher ganz etwas anderes, als die      
  19 Geschichte der Freiheit in ihrem Fortgange, die nur auf Nachrichten      
  20 gegründet werden kann.      
           
  21 Gleichwohl, da Muthmaßungen ihre Ansprüche auf Beistimmung      
  22 nicht zu hoch treiben dürfen, sondern sich allenfalls nur als eine der Einbildungskraft      
  23 in Begleitung der Vernunft zur Erholung und Gesundheit      
  24 des Gemüths vergönnte Bewegung, nicht aber für ein ernsthaftes Geschäft      
  25 ankündigen müssen: so können sie sich auch nicht mit derjenigen Geschichte      
  26 messen, die über eben dieselbe Begebenheit als wirkliche Nachricht aufgestellt      
  27 und geglaubt wird, deren Prüfung auf ganz andern Gründen, als bloßer      
  28 Naturphilosophie beruht. Eben darum, und da ich hier eine bloße Lustreise      
  29 wage, darf ich mir wohl die Gunst versprechen, daß es mir erlaubt sei,      
  30 mich einer heiligen Urkunde dazu als Karte zu bedienen und mir zugleich      
  31 einzubilden, als ob mein Zug, den ich auf den Flügeln der Einbildungskraft,      
           
     

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