Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 295 |
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01 | die Gründung eines Charakters aber ist absolute Einheit des innern Princips | ||||||
02 | des Lebenswandels überhaupt. - Auch sagt man: daß Poeten keinen | ||||||
03 | Charakter haben, z. B. ihre besten Freunde zu beleidigen, ehe sie einen | ||||||
04 | witzigen Einfall aufgäben; oder daß er bei Hofleuten, die sich in alle Formen | ||||||
05 | fügen müssen, gar nicht zu suchen sei, und daß es bei Geistlichen, die | ||||||
06 | dem Herrn des Himmels, zugleich aber auch den Herren der Erde in einerlei | ||||||
07 | Stimmung den Hof machen, mit der Festigkeit des Charakters nur | ||||||
08 | mißlich bestellt sei, daß also einen inneren (moralischen) Charakter zu | ||||||
09 | haben wohl nur ein frommer Wunsch sei und bleiben werde. Vielleicht | ||||||
10 | aber sind wohl gar die Philosophen daran schuld: dadurch daß sie diesen | ||||||
11 | Begriff noch nie abgesondert in ein gnugsam helles Licht gesetzt und | ||||||
12 | die Tugend nur in Bruchstücken, aber nie ganz in ihrer schönen Gestalt | ||||||
13 | vorstellig und für alle Menschen interessant zu machen gesucht haben. | ||||||
14 | Mit einem Worte: Wahrhaftigkeit im Inneren des Geständnisses | ||||||
15 | vor sich selbst und zugleich im Betragen gegen jeden Anderen, sich zur | ||||||
16 | obersten Maxime gemacht, ist der einzige Beweis des Bewußtseins eines | ||||||
17 | Menschen, daß er einen Charakter hat; und da diesen zu haben das Minimum | ||||||
18 | ist, was man von einem vernünftigen Menschen fordern kann, zugleich | ||||||
19 | aber auch das Maximum des inneren Werths (der Menschenwürde): | ||||||
20 | so muß, ein Mann von Grundsätzen zu sein (einen bestimmten Charakter | ||||||
21 | zu haben), der gemeinsten Menschenvernunft möglich und dadurch dem | ||||||
22 | größten Talent der Würde nach überlegen sein. | ||||||
23 | Von der Physiognomik. |
[ entsprechender Abschnitt in den Reflexionen zur Antropologie (AA XV, 547) ] | |||||
24 | Sie ist die Kunst, aus der sichtbaren Gestalt eines Menschen, folglich | ||||||
25 | aus dem Äußeren das Innere desselben zu beurtheilen; es sei seiner | ||||||
26 | Sinnesart oder Denkungsart nach. - Man beurtheilt ihn hier nicht in | ||||||
27 | seinem krankhaften, sondern gesunden Zustande; nicht wenn sein Gemüth | ||||||
28 | in Bewegung, sondern wenn es in Ruhe ist. - Es versteht sich von selbst, | ||||||
29 | daß: wenn der, welchen man in dieser Absicht beurtheilt, inne wird, daß | ||||||
30 | man ihn beobachte und sein Inneres ausspähe, sein Gemüth nicht in Ruhe, | ||||||
31 | sondern im Zustande des Zwanges und der inneren Bewegung, ja selbst | ||||||
32 | des Unwillens sei, sich eines anderen Censur ausgesetzt zu sehen. | ||||||
33 | Wenn eine Uhr ein gefälliges Gehäuse hat, so kann man daraus | ||||||
34 | (sagt ein berühmter Uhrmacher) nicht mit Sicherheit urtheilen, daß auch | ||||||
35 | das Innere gut sei; ist das Gehäuse aber schlecht gearbeitet, so kann man | ||||||
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