Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 288 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
Verknüpfungen:
|
|
||||
01 | für den Augenblick eine große Wichtigkeit, und den folgenden mag er daran | ||||||
02 | nicht weiter denken. Er verspricht ehrlicherweise, aber hält nicht Wort: | ||||||
03 | weil er nicht vorher tief genug nachgedacht hat, ob er es auch zu halten | ||||||
04 | vermögend sein werde. Er ist gutmüthig genug anderen Hülfe zu leisten, | ||||||
05 | ist aber ein schlimmer Schuldner und verlangt immer Fristen. Er ist ein | ||||||
06 | guter Gesellschafter, scherzhaft, aufgeräumt, mag keinem Dinge gerne | ||||||
07 | große Wichtigkeit geben ( Vive la bagatelle! ) und hat alle Menschen zu | ||||||
08 | Freunden. Er ist gewöhnlich kein böser Mensch, aber ein schlimm zu bekehrender | ||||||
09 | Sünder, den etwas zwar sehr reuet, der aber diese Reue (die | ||||||
10 | nie ein Gram wird) bald vergißt. Er ermüdet unter Geschäften und ist | ||||||
11 | doch rastlos beschäftigt in dem, was blos Spiel ist: weil dieses Abwechselung | ||||||
12 | bei sich führt und das Beharren seine Sache nicht ist. | ||||||
13 | B. |
||||||
14 | Das melancholische Temperament des Schwerblütigen. |
||||||
15 | Der zur Melancholie Gestimmte (nicht der Melancholische; denn | ||||||
16 | das bedeutet einen Zustand, nicht den bloßen Hang zu einem Zustande) | ||||||
17 | giebt allen Dingen die ihn selbst angehen, eine große Wichtigkeit, findet | ||||||
18 | allerwärts Ursache zu Besorgnissen und richtet seine Aufmerksamkeit zuerst | ||||||
19 | auf die Schwierigkeiten, so wie dagegen der Sanguinische von der Hoffnung | ||||||
20 | des Gelingens anhebt: daher jener auch tief, so wie dieser nur oberflächlich | ||||||
21 | denkt. Er verspricht schwerlich: weil ihm das Worthalten theuer, | ||||||
22 | aber das Vermögen dazu bedenklich ist. Nicht daß dieses alles aus moralischen | ||||||
23 | Ursachen geschähe (denn es ist hier von sinnlichen Triebfedern | ||||||
24 | die Rede), sondern weil ihm das Widerspiel Ungelegenheit und ihn eben | ||||||
25 | darum besorgt, mißtrauisch und bedenklich, dadurch aber auch für den | ||||||
26 | Frohsinn unempfänglich macht. - Übrigens ist diese Gemüthsstimmung, | ||||||
27 | wenn sie habituell ist, doch der des Menschenfreundes, welche mehr ein | ||||||
28 | Erbtheil des Sanguinischen ist, wenigstens dem Anreize nach entgegen: | ||||||
29 | weil der, welcher selbst die Freude entbehren muß, sie schwerlich anderen | ||||||
30 | gönnen wird. | ||||||
[ Seite 287 ] [ Seite 289 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |