Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 256 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
Verknüpfungen:
|
|
||||
01 | weibisch), und nur die Anwandlung zu Thränen und zwar aus großmüthiger, | ||||||
02 | aber ohnmächtiger Theilnehmung am Leiden Anderer kann dem | ||||||
03 | Mann verziehen werden, dem die Thräne im Auge glänzt, ohne sie in | ||||||
04 | Tropfen fallen zu lassen, noch weniger sie mit Schluchzen zu begleiten und | ||||||
05 | so eine widerwärtige Musik zu machen. | ||||||
06 | Von der Furchtsamkeit und der Tapferkeit. |
[ entsprechender Abschnitt in den Reflexionen zur Antropologie (AA XV, 478) ] | |||||
07 | § 77. Bangigkeit, Angst, Grauen und Entsetzen sind Grade der | ||||||
08 | Furcht, d. i. des Abscheues vor Gefahr. Die Fassung des Gemüths, die | ||||||
09 | letztere mit Überlegung zu übernehmen, ist der Muth; die Stärke des inneren | ||||||
10 | Sinnes ( Ataraxia ), nicht leicht wodurch in Furcht gesetzt zu werden, | ||||||
11 | ist Unerschrockenheit. Der Mangel des ersteren ist Feigheit*), des | ||||||
12 | zweiten Schüchternheit. | ||||||
13 | Herzhaft ist der, welcher nicht erschrickt; Muth hat der, welcher | ||||||
14 | mit Überlegung der Gefahr nicht weicht; tapfer ist der, dessen Muth in | ||||||
15 | Gefahren anhaltend ist. Wagehalsig ist der Leichtsinnige, der sich in | ||||||
16 | Gefahren wagt, weil er sie nicht kennt. Kühn, der sie wagt, ob er sie | ||||||
17 | gleich kennt; tollkühn, der bei sichtbarer Unmöglichkeit seinen Zweck zu | ||||||
18 | erreichen sich in die größte Gefahr setzt (wie Karl XII bei Bender). Die | ||||||
19 | Türken nennen ihre Braven (vielleicht durch Opium) Tolle. - Feigheit | ||||||
20 | ist also ehrlose Verzagtheit. | ||||||
21 | Erschrockenheit ist nicht eine habituelle Beschaffenheit, leicht in | ||||||
22 | Furcht zu gerathen, denn diese heißt Schüchternheit; sondern blos ein Zustand | ||||||
23 | und zufällige Disposition, mehrentheils blos von körperlichen Ursachen | ||||||
24 | abhängend, sich gegen eine plötzlich aufstoßende Gefahr nicht gefaßt | ||||||
25 | genug zu fühlen. Einem Feldherrn, der im Schlafrock ist, indem ihm die | ||||||
26 | unerwartete Annäherung des Feindes angekündigt wird, kann wohl das | ||||||
27 | Blut einen Augenblick in den Herzkammern stocken, und an einem gewissen | ||||||
28 | General bemerkte sein Arzt, daß, wenn er Säure im Magen hatte, | ||||||
29 | er kleinmüthig und schüchtern war. Herzhaftigkeit aber ist blos Temperamentseigenschaft. | ||||||
30 | Der Muth dagegen beruht auf Grundsätzen und | ||||||
31 | ist eine Tugend. Die Vernunft reicht dem entschlossenen Mann alsdann | ||||||
32 | Stärke, die ihm die Natur bisweilen versagt. Das Erschrecken in Gefechten | ||||||
*) Das Wort Poltron (von pollex truncatos hergenommen) wurde im späteren Lateinischen mit murcus gegeben und bedeutete einen Menschen, der sich den Daumen abhackt, um nicht in den Krieg ziehen zu dürfen. | |||||||
[ Seite 255 ] [ Seite 257 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |