Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 249 |
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01 | Rede aber noch wohl erträglich? Die Ursache scheint darin zu liegen, daß | ||||||
02 | die Feierlichkeit des Tons in jedem poetischen Product große Erwartung | ||||||
03 | erregt und eben dadurch, daß diese nicht befriedigt wird, wie gewöhnlich | ||||||
04 | noch tiefer sinkt, als der prosaische Werth desselben es etwa noch verdienen | ||||||
05 | würde. - Die Endigung eines Gedichts mit einem Verse, der als Sentenz | ||||||
06 | aufbehalten werden kann, wirkt ein Vergnügen im Nachgeschmacke und | ||||||
07 | macht dadurch manches Schale wieder gut; gehört also auch zur Kunst | ||||||
08 | des Dichters. | ||||||
09 | Daß im Alter die poetische Ader vertrocknet, zu einer Zeit da Wissenschaften | ||||||
10 | dem guten Kopf noch immer gute Gesundheit und Thätigkeit in | ||||||
11 | Geschäften ankündigen, kommt wohl daher: daß Schönheit eine Blüthe, | ||||||
12 | Wissenschaft aber Frucht ist, d. i. die Poesie eine freie Kunst sein muß, | ||||||
13 | welche der Mannigfaltigkeit halber Leichtigkeit erfordert, im Alter aber | ||||||
14 | dieser leichte Sinn (und das mit Recht) schwindet; weil ferner Gewohnheit, | ||||||
15 | in derselben Bahn der Wissenschaften nur fortzuschreiten, zugleich | ||||||
16 | Leichtigkeit bei sich führt, Poesie also, welche zu jedem ihrer Producte Originalität | ||||||
17 | und Neuigkeit (und hiezu Gewandtheit) erfordert, mit dem | ||||||
18 | Alter nicht wohl zusammenstimmt; außer etwa in Sachen des kaustischen | ||||||
19 | Witzes, in Epigrammen und Xenien, wo sie aber auch mehr Ernst als | ||||||
20 | Spiel ist. | ||||||
21 | Daß Poeten kein solches Glück machen, als Advocaten und andere | ||||||
22 | Professionsgelehrte, liegt schon in der Anlage des Temperaments, welches | ||||||
23 | überhaupt zum gebornen Poeten erforderlich ist: nämlich die Sorgen durch | ||||||
24 | das gesellige Spiel mit Gedanken zu verjagen. - Eine Eigenheit aber, | ||||||
25 | die den Charakter betrifft, nämlich die, keinen Charakter zu haben, | ||||||
26 | sondern wetterwendisch, launisch und (ohne Bosheit) unzuverlässig zu sein, | ||||||
27 | sich muthwillig Feinde zu machen, ohne doch eben jemand zu hassen, und | ||||||
28 | seinen Freund beißend zu bespötteln, ohne ihm wehe thun zu wollen, liegt | ||||||
29 | in einer über die praktische Urtheilskraft herrschenden, zum Theil angebornen | ||||||
30 | Anlage des verschrobenen Witzes. | ||||||
31 | Von der Üppigkeit. |
[ entsprechender Abschnitt in den Reflexionen zur Antropologie (AA XV, 440) ] | |||||
32 | § 72. Üppigkeit ( luxus ) ist das Übermaß des gesellschaftlichen | ||||||
33 | Wohllebens mit Geschmack in einem gemeinen Wesen (die also der | ||||||
34 | Wohlfahrt desselben zuwider ist.) Jenes Übermaß, aber ohne Geschmack | ||||||
35 | ist die öffentliche Schwelgerei ( luxuries ). - Wenn man beiderlei Wirkungen | ||||||
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