Kant: AA VII, Der Streit der ... , Seite 074

   
         
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

Verknüpfungen:

 

 

 
  01 moralischen Gesetzgeber für alle unsere Pflichten, als Urheber    
  02 des uns inwohnenden moralischen Gesetzes. Diese Idee bietet dem    
  03 Menschen eine ganz neue Welt dar. Er fühlt sich für ein anderes Reich    
  04 geschaffen, als für das Reich der Sinne und des Verstandes, -nämlich    
  05 für ein moralisches Reich, für ein Reich Gottes. Er erkennt nun seine    
  06 Pflichten zugleich als göttliche Gebote, und es entsteht in ihm ein neues    
  07 Erkenntniß, ein neues Gefühl, nämlich Religion. -So weit, ehrwürdiger    
  08 Vater, war ich in dem Studio Ihrer Schriften gekommen, als ich eine    
  09 Classe von Menschen kennen lernte, die man Separatisten nennt, die aber    
  10 sich selbst Mystiker nennen, bei welchen ich fast buchstäblich Ihre Lehre    
  11 in Ausübung gebracht fand. Es hielt freilich anfangs schwer, diese in der    
  12 mystischen Sprache dieser Leute wieder zu finden; aber es gelang mir nach    
  13 anhaltendem Suchen. Es fiel mir auf, daß diese Menschen ganz ohne    
  14 Gottesdienst lebten; alles verwarfen, was Gottesdienst heißt und nicht    
  15 in Erfüllung seiner Pflichten besteht; daß sie sich für religiöse Menschen,    
  16 ja für Christen hielten und doch die Bibel nicht als ihr Gesetzbuch ansahen,    
  17 sondern nur von einem inneren, von Ewigkeit her in uns einwohnenden    
  18 Christenthum sprachen. -Ich forschte nach dem Lebenswandel    
  19 dieser Leute und fand (räudige Schafe ausgenommen, die man in jeder    
  20 Heerde ihres Eigennutzes wegen findet) bei ihnen reine moralische Gesinnungen    
  21 und eine beinahe stoische Consequenz in ihren Handlungen.    
  22 Ich untersuchte ihre Lehre und ihre Grundsätze und fand im Wesentlichen    
  23 ganz Ihre Moral und Religionslehre wieder, jedoch immer mit dem Unterschiede,    
  24 daß sie das innere Gesetz, wie sie es nennen, für eine innere    
  25 Offenbarung und also bestimmt Gott für den Urheber desselben halten.    
  26 Es ist wahr, sie halten die Bibel für ein Buch, welches auf irgend eine    
  27 Art, worauf sie sich nicht weiter einlassen, göttlichen Ursprungs ist; aber    
  28 wenn man genauer forscht, so findet man, daß sie diesen Ursprung der    
  29 Bibel erst aus der Übereinstimmung der Bibel, der in ihr enthaltenen    
  30 Lehren, mit ihrem inneren Gesetze schließen: denn wenn man sie z. B.    
  31 fragt: warum? so ist ihre Antwort: sie legitimirt sich in meinem Inneren,    
  32 und ihr werdet es eben so finden, wenn ihr der Weisung eures inneren    
  33 Gesetzes oder den Lehren der Bibel Folge leistet. Eben deswegen halten    
  34 sie sie auch nicht für ihr Gesetzbuch, sondern nur für eine historische Bestätigung,    
  35 worin sie das, was in ihnen selbst ursprünglich gegründet ist,    
  36 wiederfinden. Mit einem Worte, diese Leute würden (verzeihen sie mir    
  37 den Ausdruck! wahre Kantianer sein, wenn sie Philosophen wären. Aber    
         
     

[ Seite 073 ] [ Seite 075 ] [ Inhaltsverzeichnis ]