Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 432

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01
II
     
  02
Vom Geize.
     
           
  03
§ 10.
     
           
  04 Ich verstehe hier unter diesem Namen nicht den habsüchtigen Geiz      
  05 (der Erweiterung seines Erwerbs der Mittel zum Wohlleben über die      
  06 Schranken des wahren Bedürfnisses): denn dieser kann auch als bloße      
  07 Verletzung seiner Pflicht (der Wohlthätigkeit) gegen Andere betrachtet      
  08 werden; auch nicht den kargen Geiz, welcher, wenn er schimpflich ist,      
  09 Knickerei oder Knauserei genannt wird, aber doch blos Vernachlässigung      
  10 seiner Liebespflichten gegen Andere sein kann; sondern die Verengung      
  11 seines eigenen Genusses der Mittel zum Wohlleben unter das Ma      
  12 des wahren eigenen Bedürfnisses; dieser Geiz ist es eigentlich, der hier      
  13 gemeint ist, welcher der Pflicht gegen sich selbst widerstreitet.      
  14 An der Rüge dieses Lasters kann man ein Beispiel von der Unrichtigkeit      
  15 aller Erklärung der Tugenden sowohl als Laster durch den bloßen      
  16 Grad deutlich machen und zugleich die Unbrauchbarkeit des Aristotelischen      
  17 Grundsatzes darthun: daß die Tugend in der Mittelstraße zwischen      
  18 zwei Lastern bestehe.      
           
  19 Wenn ich nämlich zwischen Verschwendung und Geiz die gute      
  20 Wirthschaft als das Mittlere ansehe, und dieses das Mittlere des Grades      
  21 sein soll: so würde ein Laster in das ( Contrarie ) entgegengesetzte Laster      
  22 nicht anders übergehen, als durch die Tugend, und so würde diese nichts      
  23 anders, als ein vermindertes, oder vielmehr verschwindendes Laster sein,      
  24 und die Folge wäre in dem gegenwärtigen Fall: daß von den Mitteln des      
  25 Wohllebens gar keinen Gebrauch zu machen die ächte Tugendpflicht sei.      
           
  26 Nicht das Maß der Ausübung sittlicher Maximen, sondern das objective      
  27 Princip derselben muß als verschieden erkannt und vorgetragen      
  28 werden, wenn ein Laster von der Tugend unterschieden werden soll.      
  29 Die Maxime des habsüchtigen Geizes (als Verschwenders) ist: alle      
  30 Mittel des Wohllebens in der Absicht auf den Genuß anzuschaffen      
  31 und zu erhalten. - Die des kargen Geizes ist hingegen der Erwerb sowohl,      
  32 als die Erhaltung aller Mittel des Wohllebens, aber ohne Absicht      
  33 auf den Genuß (d. i. ohne daß dieser, sondern nur der Besitz der      
  34 Zweck sei).      
           
  35 Also ist das eigenthümliche Merkmal des letzteren Lasters der Grundsatz      
  36 des Besitzes der Mittel zu allerlei Zwecken, doch mit dem Vorbehalt,      
           
     

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