Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 427

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01
Dritter Artikel.
     
  02
Von der Selbstbetäubung durch Unmäßigkeit im Gebrauch
     
  03
der Genieß= oder auch Nahrungsmittel.
     
           
  04
§ 8.
     
           
  05 Das Laster in dieser Art der Unmäßigkeit wird hier nicht aus dem      
  06 Schaden, oder den körperlichen Schmerzen, (solchen Krankheiten), die der      
  07 Mensch sich dadurch zuzieht, beurtheilt; denn da wäre es ein Princip des      
  08 Wohlbefindens und der Behaglichkeit (folglich der Glückseligkeit), wodurch      
  09 ihm entgegen gearbeitet werden sollte, welches aber nie eine Pflicht, sondern      
  10 nur eine Klugheitsregel begründen kann: wenigstens wäre es kein      
  11 Princip einer directen Pflicht.      
           
  12 Die thierische Unmäßigkeit im Genuß der Nahrung ist der Mißbrauch      
  13 der Genießmittel, wodurch das Vermögen des intellectuellen Gebrauchs      
  14 derselben gehemmt oder erschöpft wird. Versoffenheit und Gefräßigkeit      
  15 sind die Laster, die unter diese Rubrik gehören. Im Zustande der      
  16 Betrunkenheit ist der Mensch nur wie ein Thier, nicht als Mensch zu behandeln;      
  17 durch die Überladung mit Speisen und in einem solchen Zustande      
  18 ist er für Handlungen, wozu Gewandtheit und Überlegung im Gebrauch      
  19 seiner Kräfte erfordert wird, auf eine gewisse Zeit gelähmt.      
  20 Daß sich in einen solchen Zustand zu versetzen Verletzung einer Pflicht      
  21 wider sich selbst sei, fällt von selbst in die Augen. Die erste dieser Erniedrigungen,      
  22 selbst unter die thierische Natur, wird gewöhnlich durch gegohrene      
  23 Getränke, aber auch durch andere betäubende Mittel, als den      
  24 Mohnsaft und andere Producte des Gewächsreichs, bewirkt und wird dadurch      
  25 verführerisch, daß dadurch auf eine Weile geträumte Glückseligkeit      
  26 und Sorgenfreiheit, ja wohl auch eingebildete Stärke hervorgebracht,      
  27 Niedergeschlagenheit aber und Schwäche und, was das Schlimmste ist,      
  28 Nothwendigkeit dieses Betäubungsmittel zu wiederholen, ja wohl gar damit      
  29 zu steigern eingeführt wird. Die Gefräßigkeit ist sofern noch unter      
  30 jener thierischen Sinnenbelustigung, daß sie blos den Sinn als passive      
  31 Beschaffenheit und nicht einmal die Einbildungskraft, welche doch noch ein      
  32 thätiges Spiel der Vorstellungen, wie im vorerwähnten Genuß der Fall      
  33 ist, beschäftigt; mithin sich dem des Viehes noch mehr nähert.      
           
           
     

[ Seite 426 ] [ Seite 428 ] [ Inhaltsverzeichnis ]