Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 419 |
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01 | verpflichtete sowohl als das verpflichtende Subject ist immer nur der | ||||||
02 | Mensch, und wenn es uns in theoretischer Rücksicht gleich erlaubt ist im | ||||||
03 | Menschen Seele und Körper als Naturbeschaffenheiten des Menschen von | ||||||
04 | einander zu unterscheiden, so ist es doch nicht erlaubt sie als verschiedene | ||||||
05 | den Menschen verpflichtende Substanzen zu denken, um zur Eintheilung | ||||||
06 | in Pflichten gegen den Körper und gegen die Seele berechtigt zu sein. | ||||||
07 | - Wir sind weder durch Erfahrung, noch durch Schlüsse der Vernunft | ||||||
08 | hinreichend darüber belehrt, ob der Mensch eine Seele (als in ihm wohnende, | ||||||
09 | vom Körper unterschiedene und von diesem unabhängig zu denken | ||||||
10 | vermögende, d. i. geistige Substanz) enthalte, oder ob nicht vielmehr das | ||||||
11 | Leben eine Eigenschaft der Materie sein möge, und wenn es sich auch auf | ||||||
12 | die erstere Art verhielte, so würde doch keine Pflicht des Menschen gegen | ||||||
13 | einen Körper (als verpflichtendes Subject), ob er gleich der menschliche | ||||||
14 | ist, denkbar sein. | ||||||
15 | 1) Es wird daher nur eine objective Eintheilung der Pflichten | ||||||
16 | gegen sich selbst in das Formale und Materiale derselben statt finden; | ||||||
17 | wovon die eine einschränkend (negative Pflichten), die andere erweiternd | ||||||
18 | (positive Pflichten gegen sich selbst) sind: jene, welche dem Menschen | ||||||
19 | in Ansehung des Zwecks seiner Natur verbieten demselben zuwider | ||||||
20 | zu handeln, mithin blos auf die moralische Selbsterhaltung, | ||||||
21 | diese, welche gebieten sich einen gewissen Gegenstand der Willkür zum | ||||||
22 | Zweck zu machen und auf die Vervollkommnung seiner selbst gehen: | ||||||
23 | von welchen beide zur Tugend entweder als Unterlassungspflichten ( sustine | ||||||
24 | et abstine ) oder als Begehungspflichten ( viribus concessis utere ), beide | ||||||
25 | aber als Tugendpflichten gehören. Die erstere gehört zur moralischen | ||||||
26 | Gesundheit ( ad esse ) des Menschen, sowohl als Gegenstandes seiner | ||||||
27 | äußeren, als seines inneren Sinnes zu Erhaltung seiner Natur in ihrer | ||||||
28 | Vollkommenheit (als Receptivität), die andere zur moralischen Wohlhabenheit | ||||||
29 | ( ad melius esse; opulentia moralis ), welche in dem Besitz | ||||||
30 | eines zu allen Zwecken hinreichenden Vermögens besteht, so fern dieses | ||||||
31 | erwerblich ist und zur Cultur (als thätiger Vollkommenheit) seiner selbst | ||||||
32 | gehört. - Der erstere Grundsatz der Pflicht gegen sich selbst liegt in dem | ||||||
33 | Spruch: lebe der Natur gemäß ( naturae convenienter vive ), d. i. erhalte | ||||||
34 | dich in der Vollkommenheit deiner Natur, der zweite in dem Satz: mache | ||||||
35 | dich vollkommner, als die bloße Natur dich schuf ( perfice te ut finem; | ||||||
36 | perfice te ut medium ). | ||||||
37 | 2) Es wird eine subjective Eintheilung der Pflichten des Menschen | ||||||
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