Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 410

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
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XVII

     
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Vorbegriffe zur Eintheilung der Tugendlehre.

     
           
  03 Dieses Princip der Eintheilung muß erstlich, was das Formale      
  04 betrifft, alle Bedingungen enthalten, welche dazu dienen, einen Theil der      
  05 allgemeinen Sittenlehre von der Rechtslehre und zwar der specifischen      
  06 Form nach zu unterscheiden, und das geschieht dadurch: daß 1) Tugendpflichten      
  07 solche sind, für welche keine äußere Gesetzgebung statt findet; 2)      
  08 daß, da doch aller Pflicht ein Gesetz zum Grunde liegen muß, dieses in der      
  09 Ethik ein Pflichtgesetz, nicht für die Handlungen, sondern blos für die      
  10 Maximen der Handlungen gegeben, sein kann; 3) daß (was wiederum      
  11 aus diesem folgt) die ethische Pflicht als weite, nicht als enge Pflicht gedacht      
  12 werden müsse.      
           
  13 Zweitens: was das Materiale anlangt, muß sie nicht blos als      
  14 Pflichtlehre überhaupt, sondern auch als Zwecklehre aufgestellt werden:      
  15 so daß der Mensch sowohl sich selbst, als auch jeden anderen Menschen      
  16 sich als seinen Zweck zu denken verbunden ist, (die man Pflichten der Selbstliebe      
  17 und Nächstenliebe zu nennen pflegt) welche Ausdrücke hier in uneigentlicher      
  18 Bedeutung genommen werden, weil es zum Lieben direct      
  19 keine Pflicht geben kann, wohl aber zu Handlungen, durch die der      
  20 Mensch sich und andere zum Zweck macht.      
           
  21 Drittens: was die Unterscheidung des Materialen vom Formalen      
  22 (der Gesetzmäßigkeit von der Zweckmäßigkeit) im Princip der Pflicht betrifft,      
  23 so ist zu merken: daß nicht jede Tugendverpflichtung ( obligatio      
  24 ethica ) eine Tugendpflicht ( officium ethicum s. virtutis ) sei; mit anderen      
  25 Worten: daß die Achtung vor dem Gesetze überhaupt noch nicht einen      
  26 Zweck als Pflicht begründe; denn der letztere allein ist Tugendpflicht.      
  27 Daher giebt es nur eine Tugendverpflichtung, aber viel Tugendpflichten:      
  28 weil es zwar viel Objecte giebt, die für uns Zwecke sind, welche zu      
  29 haben zugleich Pflicht ist, aber nur eine tugendhafte Gesinnung als subjectiver      
  30 Bestimmungsgrund seine Pflicht zu erfüllen, welche sich auch über      
  31 Rechtspflichten erstreckt, die aber darum nicht den Namen der Tugendpflichten      
  32 führen können. - Daher wird alle Eintheilung der Ethik nur      
  33 auf Tugendpflichten gehen. Die Wissenschaft von der Art, auch ohne      
  34 Rücksicht auf mögliche äußere Gesetzgebung verbindlich zu sein, ist die      
  35 Ethik selbst, ihrem formalen Princip nach betrachtet.      
           
           
     

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