Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 381

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 kann die gesetzgebende Vernunft ihrem Einfluß nicht anders wehren, als      
  02 wiederum durch einen entgegengesetzten moralischen Zweck, der also von      
  03 der Neigung unabhängig a priori gegeben sein muß.      
           
  04 Zweck ist ein Gegenstand der Willkür (eines vernünftigen Wesens),      
  05 durch dessen Vorstellung diese zu einer Handlung diesen Gegenstand hervorzubringen      
  06 bestimmt wird. - Nun kann ich zwar zu Handlungen, die      
  07 als Mittel auf einen Zweck gerichtet sind, nie aber einen Zweck zu      
  08 haben von anderen gezwungen werden, sondern ich kann nur selbst mir      
  09 etwas zum Zweck machen. - Daß ich aber auch verbunden bin mir      
  10 irgend etwas, was in den Begriffen der praktischen Vernunft liegt, zum      
  11 Zwecke zu machen, mithin außer dem formalen Bestimmungsgrunde der      
  12 Willkür (wie das Recht dergleichen enthält) noch einen materialen, einen      
  13 Zweck zu haben, der dem Zweck aus sinnlichen Antrieben entgegengesetzt      
  14 werden könne: dieses würde der Begriff von einem Zweck sein, der an      
  15 sich selbst Pflicht ist; die Lehre desselben aber würde nicht zu der des      
  16 Rechts, sondern zur Ethik gehören, als welche allein den Selbstzwang      
  17 nach (moralischen) Gesetzen in ihrem Begriffe mit sich führt.      
           
  18 Aus diesem Grunde kann die Ethik auch als das System der Zwecke      
  19 der reinen praktischen Vernunft definirt werden. - Zweck und Pflicht      
  20 unterscheiden die zwei Abtheilungen der allgemeinen Sittenlehre. Da      
  21 die Ethik Pflichten enthalte, zu deren Beobachtung man von andern nicht      
  22 (physisch) gezwungen werden kann, ist blos die Folge daraus, daß sie eine      
  23 Lehre der Zwecke ist, weil dazu (sie zu haben) ein Zwang sich selbst      
  24 widerspricht.      
           
  25 Daß aber die Ethik eine Tugendlehre ( doctrina officiorum virtutis )      
  26 sei, folgt aus der obigen Erklärung der Tugend, verglichen mit der      
  27 Verpflichtung, deren Eigenthümlichkeit so eben gezeigt worden. - Es      
  28 giebt nämlich keine andere Bestimmung der Willkür, die durch ihren Begriff      
  29 schon dazu geeignet wäre, von der Willkür Anderer selbst physisch      
  30 nicht gezwungen werden zu können, als nur die zu einem Zwecke. Ein      
  31 Anderer kann mich zwar zwingen etwas zu thun, was nicht mein Zweck      
  32 (sondern nur Mittel zum Zweck eines Anderen) ist, aber nicht dazu, daß      
  33 ich es mir zum Zweck mache, und doch kann ich keinen Zweck haben,      
  34 ohne ihn mir zu machen. Das letztere ist ein Widerspruch mit sich selbst:      
  35 ein Act der Freiheit, der doch zugleich nicht frei ist. - Aber sich selbst      
  36 einen Zweck zu setzen, der zugleich Pflicht ist, ist kein Widerspruch: weil      
  37 ich da mich selbst zwinge, welches mit der Freiheit gar wohl zusammen      
           
     

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