Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 305

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 zu ertheilen: weil selbst im bürgerlichen Zustande ein Zwang zu Eidesleistungen      
  02 der unverlierbaren menschlichen Freiheit zuwider ist.      
           
  03 Wenn die Amtseide, welche gewöhnlich promissorisch sind,      
  04 daß man nämlich den ernstlichen Vorsatz habe, sein Amt pflichtmäßig      
  05 zu verwalten, in assertorische verwandelt würden, daß      
  06 nämlich der Beamte etwa zu Ende eines Jahres (oder mehrerer) verbunden      
  07 wäre, die Treue seiner Amtsführung während desselben zu      
  08 beschwören: so würde dieses Theils das Gewissen mehr in Bewegung      
  09 bringen, als der Versprechungseid, welcher hinterher noch immer den      
  10 inneren Vorwand übrig läßt, man habe bei dem besten Vorsatz die      
  11 Beschwerden nicht voraus gesehen, die man nur nachher während      
  12 der Amtsverwaltung erfahren habe, und die Pflichtübertretungen      
  13 würden auch, wenn ihre Summirung durch Aufmerker bevorstände,      
  14 mehr Besorgniß der Anklage wegen erregen, als wenn sie bloß eine      
  15 nach der anderen (über welche die vorigen vergessen sind) gerügt      
  16 würden. - Was aber das Beschwören des Glaubens ( de credulitate )      
  17 betrifft, so kann dieses gar nicht von einem Gericht verlangt      
  18 werden. Denn erstlich enthält es in sich selbst einen Widerspruch:      
  19 dieses Mittelding zwischen Meinen und Wissen, weil es so etwas ist,      
  20 worauf man wohl zu wetten, keinesweges aber darauf zu schwören      
  21 sich getrauen kann. Zweitens begeht der Richter, der solchen Glaubenseid      
  22 dem Parten ansinnte, um etwas zu seiner Absicht Gehöriges,      
  23 gesetzt es sei auch das gemeine Beste, auszumitteln, einen großen      
  24 Verstoß an der Gewissenhaftigkeit des Eidleistenden, theils durch      
  25 den Leichtsinn, zu dem er verleitet und wodurch der Richter seine      
  26 eigene Absicht vereitelt, theils durch Gewissensbisse, die ein Mensch      
  27 fühlen muß, der heute eine Sache, aus einem gewissen Gesichtspunkt      
  28 betrachtet, sehr wahrscheinlich, morgen aber, aus einem anderen, ganz      
  29 unwahrscheinlich finden kann, und lädirt also denjenigen, den er zu      
  30 einer solchen Eidesleistung nöthigt.      
           
  31

Übergang von dem Mein und Dein im Naturzustande zu

     
  32

dem im rechtlichen Zustande überhaupt.

     
           
  33
§ 41.
     
           
  34 Der rechtliche Zustand ist dasjenige Verhältniß der Menschen unter      
  35 einander, welches die Bedingungen enthält, unter denen allein jeder seines      
           
     

[ Seite 304 ] [ Seite 306 ] [ Inhaltsverzeichnis ]