Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 301 |
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01 | oder durch förmliche Veräußerung des Besitzers, der sich als Eigenthümer | ||||||
02 | führt, an mich gekommen, obgleich dieser nicht Eigenthümer ist, so frägt | ||||||
03 | sich, ob, da ich von einem Nichteigenthümer ( a non domino ) eine Sache | ||||||
04 | nicht erwerben kann, ich durch jenen von allem Recht in dieser Sache ausgeschlossen | ||||||
05 | werde und bloß ein persönliches gegen den unrechtmäßigen Besitzer | ||||||
06 | übrig behalte. - Das letztere ist offenbar der Fall, wenn die Erwerbung | ||||||
07 | bloß nach ihren inneren berechtigenden Gründen (im Naturzustande), | ||||||
08 | nicht nach der Convenienz eines Gerichtshofes beurtheilt wird. | ||||||
09 | Denn alles Veräußerliche muß von irgend jemand können erworben | ||||||
10 | werden. Die Rechtmäßigkeit der Erwerbung aber beruht gänzlich auf der | ||||||
11 | Form, nach welcher das, was im Besitz eines Anderen ist, auf mich übertragen | ||||||
12 | und von mir angenommen wird, d. i. auf der Förmlichkeit des rechtlichen | ||||||
13 | Acts des Verkehrs ( commutatio ) zwischen dem Besitzer der Sache | ||||||
14 | und dem Erwerbenden, ohne daß ich fragen darf, wie jener dazu gekommen | ||||||
15 | sei: weil dieses schon Beleidigung sein würde ( quilibet praesumitur | ||||||
16 | bonus, donec etc. ). Gesetzt nun, es ergäbe sich in der Folge, daß | ||||||
17 | jener nicht Eigenthümer sei, sondern ein Anderer, so kann ich nicht sagen, | ||||||
18 | daß dieser sich geradezu an mich halten könnte (so wie auch an jeden | ||||||
19 | Anderen, der Inhaber der Sache sein möchte). Denn ich habe ihm nichts | ||||||
20 | entwandt, sondern z. B. das Pferd, was auf öffentlichem Markte feil geboten | ||||||
21 | wurde, dem Gesetze gemäß ( titulo emti venditi ) erstanden: weil der Titel | ||||||
22 | der Erwerbung meinerseits unbestritten ist, ich aber (als Käufer) den Titel | ||||||
23 | des Besitzes des Anderen (des Verkäufers) nachzusuchen - da diese Nachforschung | ||||||
24 | in der aufsteigenden Reihe ins Unendliche gehen würde | ||||||
25 | nicht verbunden, ja sogar nicht einmal befugt bin. Also bin ich durch den | ||||||
26 | gehörig=betitelten Kauf nicht der bloß putative, sondern der wahre | ||||||
27 | Eigenthümer des Pferdes geworden. | ||||||
28 | Hierwider erheben sich aber folgende Rechtsgründe: Alle Erwerbung | ||||||
29 | von einem, der nicht Eigenthümer der Sache ist ( a non domino ), ist null | ||||||
30 | und nichtig. Ich kann von dem Seinen eines Anderen nicht mehr auf | ||||||
31 | mich ableiten, als er selbst rechtmäßig gehabt hat, und ob ich gleich, was | ||||||
32 | die Form der Erwerbung ( modus acquirendi ) betrifft, ganz rechtlich | ||||||
33 | verfahre, wenn ich ein gestohlen Pferd, was auf dem Markte feil steht, | ||||||
34 | erhandle, so fehlt doch der Titel der Erwerbung; denn das Pferd war | ||||||
35 | nicht das Seine des eigentlichen Verkäufers. Ich mag immer ein ehrlicher | ||||||
36 | Besitzer desselben ( possessor bonae fidei ) sein, so bin ich doch nur | ||||||
37 | ein sich dünkender Eigenthümer ( dominus putativus ), und der wahre | ||||||
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