Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 234 |
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| 01 | weiteren Sinne ( ius latum ), wo die Befugniß zu zwingen durch kein | ||||||
| 02 | Gesetz bestimmt werden kann. - Dieser wahren oder vorgeblichen Rechte | ||||||
| 03 | sind nun zwei: die Billigkeit und das Nothrecht; von denen die erste | ||||||
| 04 | ein Recht ohne Zwang, das zweite einen Zwang ohne Recht annimmt, | ||||||
| 05 | und man wird leicht gewahr, diese Doppelsinnigkeit beruhe eigentlich | ||||||
| 06 | darauf, daß es Fälle eines bezweifelten Rechts giebt, zu deren Entscheidung | ||||||
| 07 | kein Richter aufgestellt werden kann. | ||||||
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| 11 | Die Billigkeit (objectiv betrachtet) ist keinesweges ein Grund zur | ||||||
| 12 | Aufforderung bloß an die ethische Pflicht Anderer (ihr Wohlwollen und | ||||||
| 13 | Gütigkeit), sondern der, welcher aus diesem Grunde etwas fordert, fußt | ||||||
| 14 | sich auf sein Recht, nur daß ihm die für den Richter erforderlichen Bedingungen | ||||||
| 15 | mangeln, nach welchen dieser bestimmen könnte, wie viel, oder | ||||||
| 16 | auf welche Art dem Anspruche desselben genug gethan werden könne. Der | ||||||
| 17 | in einer auf gleiche Vortheile eingegangenen Maskopei dennoch mehr gethan, | ||||||
| 18 | dabei aber wohl gar durch Unglücksfälle mehr verloren hat, als | ||||||
| 19 | die übrigen Glieder, kann nach der Billigkeit von der Gesellschaft mehr | ||||||
| 20 | fordern, als bloß zu gleichen Theilen mit ihnen zu gehen. Allein nach dem | ||||||
| 21 | eigentlichen (stricten) Recht, weil, wenn man sich in seinem Fall einen | ||||||
| 22 | Richter denkt, dieser keine bestimmte Angaben ( data ) hat, um, wie viel | ||||||
| 23 | nach dem Contract ihm zukomme, auszumachen, würde er mit seiner | ||||||
| 24 | Forderung abzuweisen sein. Der Hausdiener, dem sein bis zu Ende des | ||||||
| 25 | Jahres laufender Lohn in einer binnen der Zeit verschlechterten Münzsorte | ||||||
| 26 | bezahlt wird, womit er das nicht ausrichten kann, was er bei Schließung | ||||||
| 27 | des Contracts sich dafür anschaffen konnte, kann bei gleichem Zahlwerth, | ||||||
| 28 | aber ungleichem Geldwerth sich nicht auf sein Recht berufen, deshalb | ||||||
| 29 | schadlos gehalten zu werden, sondern nur die Billigkeit zum Grunde aufrufen | ||||||
| 30 | (eine stumme Gottheit, die nicht gehört werden kann): weil nichts | ||||||
| 31 | hierüber im Contract bestimmt war, ein Richter aber nach unbestimmten | ||||||
| 32 | Bedingungen nicht sprechen kann. | ||||||
| 33 | Hieraus folgt auch, daß ein Gerichtshof der Billigkeit (in einem | ||||||
| 34 | Streit anderer über ihre Rechte) einen Widerspruch in sich schließe. Nur | ||||||
| 35 | da, wo es die eigenen Rechte des Richters betrifft, und in dem, worüber | ||||||
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