Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 216 |
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01 | erhobene Erfahrung, welche Allgemeinheit ( secundum principia generalia, | ||||||
02 | non universalia ) noch dazu so kümmerlich ist, daß man einem jeden unendlich | ||||||
03 | viel Ausnahmen erlauben muß, um jene Wahl seiner Lebensweise | ||||||
04 | seiner besondern Neigung und seiner Empfänglichkeit für die Vergnügen | ||||||
05 | anzupassen und am Ende doch nur durch seinen oder anderer ihren | ||||||
06 | Schaden klug zu werden. | ||||||
07 | Allein mit den Lehren der Sittlichkeit ist es anders bewandt. Sie | ||||||
08 | gebieten für jedermann, ohne Rücksicht auf seine Neigungen zu nehmen: | ||||||
09 | blos weil und sofern er frei ist und praktische Vernunft hat. Die Belehrung | ||||||
10 | in ihren Gesetzen ist nicht aus der Beobachtung seiner selbst und | ||||||
11 | der Thierheit in ihm, nicht aus der Wahrnehmung des Weltlaufs geschöpft, | ||||||
12 | von dem, was geschieht und wie gehandelt wird (obgleich das deutsche | ||||||
13 | Wort Sitten eben so wie das lateinische mores nur Manieren und Lebensart | ||||||
14 | bedeutet), sondern die Vernunft gebietet, wie gehandelt werden soll, | ||||||
15 | wenn gleich noch kein Beispiel davon angetroffen würde, auch nimmt sie | ||||||
16 | keine Rücksicht auf den Vortheil, der uns dadurch erwachsen kann, und den | ||||||
17 | freilich nur die Erfahrung lehren könnte. Denn ob sie zwar erlaubt, unsern | ||||||
18 | Vortheil auf alle uns mögliche Art zu suchen, überdem auch sich, auf | ||||||
19 | Erfahrungszeugnisse fußend, von der Befolgung ihrer Gebote, vornehmlich | ||||||
20 | wenn Klugheit dazu kommt, im Durchschnitte größere Vortheile, als | ||||||
21 | von ihrer Übertretung wahrscheinlich versprechen kann, so beruht darauf | ||||||
22 | doch nicht die Autorität ihrer Vorschriften als Gebote, sondern sie bedient | ||||||
23 | sich derselben (als Rathschläge) nur als eines Gegengewichts wider | ||||||
24 | die Verleitungen zum Gegentheil, um den Fehler einer parteiischen Wage | ||||||
25 | in der praktischen Beurtheilung vorher auszugleichen und alsdann allererst | ||||||
26 | dieser nach dem Gewicht der Gründe a priori einer reinen praktischen | ||||||
27 | Vernunft den Ausschlag zu sichern. | ||||||
28 | Wenn daher ein System der Erkenntniß a priori aus bloßen Begriffen | ||||||
29 | Metaphysik heißt, so wird eine praktische Philosophie, welche | ||||||
30 | nicht Natur, sondern die Freiheit der Willkür zum Objecte hat, eine Metaphysik | ||||||
31 | der Sitten voraussetzen und bedürfen: d. i. eine solche zu haben ist | ||||||
32 | selbst Pflicht, und jeder Mensch hat sie auch, obzwar gemeiniglich nur | ||||||
33 | auf dunkle Art in sich; denn wie könnte er ohne Principien a priori eine | ||||||
34 | allgemeine Gesetzgebung in sich zu haben glauben? So wie es aber in | ||||||
35 | einer Metaphysik der Natur auch Principien der Anwendung jener allgemeinen | ||||||
36 | obersten Grundsätze von einer Natur überhaupt auf Gegenstände | ||||||
37 | der Erfahrung geben muß, so wird es auch eine Metaphysik der Sitten | ||||||
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