Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 099

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 welches ein juridisches gemeines Wesen ausmachen würde, nur auf die      
  02 Legalität der Handlungen, die in die Augen fällt, gestellt sind und nicht      
  03 auf die (innere) Moralität, von der hier allein die Rede ist. Es muß also ein      
  04 Anderer als das Volk sein, der für ein ethisches gemeines Wesen als öffentlich      
  05 gesetzgebend angegeben werden könnte. Gleichwohl können ethische      
  06 Gesetze auch nicht als bloß von dem Willen dieses Obern ursprünglich      
  07 ausgehend (als Statute, die etwa, ohne daß sein Befehl vorher ergangen,      
  08 nicht verbindend sein würden) gedacht werden, weil sie alsdann keine      
  09 ethische Gesetze und die ihnen gemäße Pflicht nicht freie Tugend, sondern      
  10 zwangsfähige Rechtspflicht sein würde. Also kann nur ein solcher als      
  11 oberster Gesetzgeber eines ethischen gemeinen Wesens gedacht werden, in      
  12 Ansehung dessen alle wahren Pflichten, mithin auch die ethischen*),      
  13 zugleich als seine Gebote vorgestellt werden müssen; welcher daher auch      
  14 ein Herzenskündiger sein muß, um auch das Innerste der Gesinnungen      
  15 eines jeden zu durchschauen und, wie es in jedem gemeinen Wesen sein      
  16 muß, jedem, was seine Thaten werth sind, zukommen zu lassen. Dieses      
  17 ist aber der Begriff von Gott als einem moralischen Weltherrscher. Also      
  18 ist ein ethisches gemeines Wesen nur als ein Volk unter göttlichen Geboten,      
  19 d. i. als ein Volk Gottes, und zwar nach Tugendgesetzen, zu      
  20 denken möglich.      
           
  21 Man könnte sich wohl auch ein Volk Gottes nach statutarischen      
  22 Gesetzen denken, nach solchen nämlich, bei deren Befolgung es nicht auf      
  23 die Moralität, sondern bloß auf die Legalität der Handlungen ankommt,      
  24 welches ein juridisches gemeines Wesen sein würde, von welchem zwar Gott      
  25 der Gesetzgeber (mithin die Verfassung desselben Theokratie) sein würde,      
           
    *) Sobald etwas als Pflicht erkannt wird, wenn es gleich durch die bloße Willkür eines menschlichen Gesetzgebers auferlegte Pflicht wäre, so ist es doch zugleich göttliches Gebot ihr zu gehorchen. Die statutarischen bürgerlichen Gesetze kann man zwar nicht göttliche Gebote nennen, wenn sie aber rechtmäßig sind, so ist die Beobachtung derselben zugleich göttliches Gebot. Der Satz "man muß Gott mehr gehorchen, als den Menschen" bedeutet nur, daß, wenn die letzten etwas gebieten, was an sich böse (dem Sittengesetz unmittelbar zuwider) ist, ihnen nicht gehorcht werden darf und soll. Umgekehrt aber, wenn einem politisch=bürgerlichen, an sich nicht unmoralischen Gesetze ein dafür gehaltenes göttliches statutarisches entgegengesetzt wird, so ist Grund da, das letztere für untergeschoben anzusehen, weil es einer klaren Pflicht widerstreitet, selbst aber, daß es wirklich auch göttliches Gebot sei, durch empirische Merkmale niemals hinreichend beglaubigt werden kann, um eine sonst bestehende Pflicht jenem zufolge übertreten zu dürfen.      
           
     

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