Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 094 |
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01 | und die damit verbundenen feindseligen Neigungen bestürmen alsbald | ||||||
02 | seine an sich genügsame Natur, wenn er unter Menschen ist, und es | ||||||
03 | ist nicht einmal nöthig, daß diese schon als im Bösen versunken und als | ||||||
04 | verleitende Beispiele vorausgesetzt werden; es ist genug, daß sie da sind, | ||||||
05 | daß sie ihn umgeben, und daß sie Menschen sind, um einander wechselseitig | ||||||
06 | in ihrer moralischen Anlage zu verderben und sich einander böse zu machen. | ||||||
07 | Wenn nun keine Mittel ausgefunden werden könnten, eine ganz eigentlich | ||||||
08 | auf die Verhütung dieses Bösen und zu Beförderung des Guten im | ||||||
09 | Menschen abzweckende Vereinigung als eine bestehende und sich immer | ||||||
10 | ausbreitende, bloß auf die Erhaltung der Moralität angelegte Gesellschaft | ||||||
11 | zu errichten, welche mit vereinigten Kräften dem Bösen entgegenwirkte, so | ||||||
12 | würde dieses, so viel der einzelne Mensch auch gethan haben möchte, um | ||||||
13 | sich der Herrschaft desselben zu entziehen, ihn doch unabläßlich in der Gefahr | ||||||
14 | des Rückfalls unter dieselbe erhalten. - Die Herrschaft des guten | ||||||
15 | Princips, so fern Menschen dazu hinwirken können, ist also, so viel wir | ||||||
16 | einsehen, nicht anders erreichbar, als durch Errichtung und Ausbreitung | ||||||
17 | einer Gesellschaft nach Tugendgesetzen und zum Behuf derselben; einer | ||||||
18 | Gesellschaft, die dem ganzen Menschengeschlecht in ihrem Umfange sie zu | ||||||
19 | beschließen durch die Vernunft zur Aufgabe und zur Pflicht gemacht wird. | ||||||
20 | - Denn so allein kann für das gute Princip über das Böse ein Sieg gehofft | ||||||
21 | werden. Es ist von der moralisch=gesetzgebenden Vernunft außer den | ||||||
22 | Gesetzen, die sie jedem einzelnen vorschreibt, noch überdem eine Fahne der | ||||||
23 | Tugend als Vereinigungspunkt für alle, die das Gute lieben, ausgesteckt, | ||||||
24 | um sich darunter zu versammeln und so allererst über das sie rastlos anfechtende | ||||||
25 | Böse die Oberhand zu bekommen. | ||||||
26 | Man kann eine Verbindung der Menschen unter bloßen Tugendgesetzen | ||||||
27 | nach Vorschrift dieser Idee eine ethische, und sofern diese Gesetze | ||||||
28 | öffentlich sind, eine ethisch=bürgerliche (im Gegensatz der rechtlich | ||||||
29 | bürgerlichen) Gesellschaft, oder ein ethisches gemeines Wesen | ||||||
30 | nennen. Dieses kann mitten in einem politischen gemeinen Wesen und | ||||||
31 | sogar aus allen Gliedern desselben bestehen (wie es denn auch, ohne daß | ||||||
32 | das letztere zum Grunde liegt, von Menschen gar nicht zu Stande gebracht | ||||||
33 | werden könnte). Aber jenes hat ein besonderes und ihm eigenthümliches | ||||||
34 | Vereinigungsprincip (die Tugend) und daher auch eine Form und Verfassung, | ||||||
35 | die sich von der des letztern wesentlich unterscheidet. Gleichwohl | ||||||
36 | ist eine gewisse Analogie zwischen beiden, als zweier gemeinen Wesen überhaupt | ||||||
37 | betrachtet, in Ansehung deren das erstere auch ein ethischer Staat, | ||||||
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