Kant: AA V, Kritik der Urtheilskraft ... , Seite 340

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Grunde liegen muß; aber ein Begriff, der sich gar nicht durch Anschauung      
  02 bestimmen, durch den sich nichts erkennen, mithin auch kein Beweis für      
  03 das Geschmacksurtheil führen läßt. Ein dergleichen Begriff aber ist      
  04 der bloße reine Vernunftbegriff von dem Übersinnlichen, was dem Gegenstande      
  05 (und auch dem urtheilenden Subjecte) als Sinnenobjecte, mithin      
  06 als Erscheinung zum Grunde liegt. Denn nähme man eine solche Rücksicht      
  07 nicht an, so wäre der Anspruch des Geschmacksurtheils auf allgemeine      
  08 Gültigkeit nicht zu retten; wäre der Begriff, worauf es sich gründet, ein      
  09 nur bloß verworrener Verstandesbegriff etwa von Vollkommenheit, dem      
  10 man correspondirend die sinnliche Anschauung des Schönen beigeben      
  11 könnte: so würde es wenigstens an sich möglich sein, das Geschmacksurtheil      
  12 auf Beweise zu gründen, welches der Thesis widerspricht.      
           
  13 Nun fällt aber aller Widerspruch weg, wenn ich sage: das Geschmacksurtheil      
  14 gründet sich auf einem Begriffe (eines Grundes überhaupt von      
  15 der subjectiven Zweckmäßigkeit der Natur für die Urtheilskraft), aus dem      
  16 aber nichts in Ansehung des Objects erkannt und bewiesen werden kann,      
  17 weil er an sich unbestimmbar und zum Erkenntniß untauglich ist; es bekommt      
  18 aber durch eben denselben doch zugleich Gültigkeit für jedermann      
  19 (bei jedem zwar als einzelnes, die Anschauung unmittelbar begleitendes      
  20 Urtheil): weil der Bestimmungsgrund desselben vielleicht im Begriffe von      
  21 demjenigen liegt, was als das übersinnliche Substrat der Menschheit angesehen      
  22 werden kann.      
           
  23 Es kommt bei der Auflösung einer Antinomie nur auf die Möglichkeit      
  24 an, daß zwei einander dem Scheine nach widerstreitende Sätze einander      
  25 in der That nicht widersprechen, sondern neben einander bestehen      
  26 können, wenn gleich die Erklärung der Möglichkeit ihres Begriffs unser      
  27 Erkenntnißvermögen übersteigt. Daß dieser Schein auch natürlich und      
  28 der menschlichen Vernunft unvermeidlich sei, imgleichen warum er es sei      
  29 und bleibe, ob er gleich nach der Auflösung des Scheinwiderspruchs nicht      
  30 betrügt, kann hieraus auch begreiflich gemacht werden.      
           
  31 Wir nehmen nämlich den Begriff, worauf die Allgemeingültigkeit      
  32 eines Urtheils sich gründen muß, in beiden widerstreitenden Urtheilen in      
  33 einerlei Bedeutung und sagen doch von ihm zwei entgegengesetzte Prädicate      
  34 aus. In der Thesis sollte es daher heißen: Das Geschmacksurtheil      
  35 gründet sich nicht auf bestimmten Begriffen; in der Antithesis aber:      
  36 Das Geschmacksurtheil gründet sich doch auf einem, obzwar unbestimmten,      
           
     

[ Seite 339 ] [ Seite 341 ] [ Inhaltsverzeichnis ]