Kant: AA V, Kritik der Urtheilskraft ... , Seite 272

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Affect heißt der Enthusiasm. Dieser Gemüthszustand scheint erhaben      
  02 zu sein, dermaßen daß man gemeiniglich vorgiebt: ohne ihn könne nichts      
  03 Großes ausgerichtet werden. Nun ist aber jeder Affect*) blind, entweder in      
  04 der Wahl seines Zwecks, oder wenn dieser auch durch Vernunft gegeben worden,      
  05 in der Ausführung desselben; denn er ist diejenige Bewegung des      
  06 Gemüths, welche es unvermögend macht, freie Überlegung der Grundsätze      
  07 anzustellen, um sich darnach zu bestimmen. Also kann er auf keinerlei      
  08 Weise ein Wohlgefallen der Vernunft verdienen. Ästhetisch gleichwohl ist      
  09 der Enthusiasm erhaben, weil er eine Anspannung der Kräfte durch Ideen      
  10 ist, welche dem Gemüthe einen Schwung geben, der weit mächtiger und      
  11 dauerhafter wirkt, als der Antrieb durch Sinnenvorstellungen. Aber (welches      
  12 befremdlich scheint) selbst Affectlosigkeit ( apatheia , phlegma in      
  13 significatu bono ) eines seinen unwandelbaren Grundsätzen nachdrücklich      
  14 nachgehenden Gemüths ist und zwar auf weit vorzüglichere Art erhaben,      
  15 weil sie zugleich das Wohlgefallen der reinen Vernunft auf ihrer Seite      
  16 hat. Eine dergleichen Gemüthsart heißt allein edel: welcher Ausdruck      
  17 nachher auch auf Sachen, z. B. Gebäude, ein Kleid, Schreibart, körperlichen      
  18 Anstand u. d. gl. , angewandt wird, wenn diese nicht sowohl Verwunderung      
  19 (Affect in der Vorstellung der Neuigkeit, welche die Erwartung      
  20 übersteigt), als Bewunderung (eine Verwunderung, die beim      
  21 Verlust der Neuigkeit nicht aufhört) erregt, welches geschieht, wenn Ideen      
  22 in ihrer Darstellung unabsichtlich und ohne Kunst zum ästhetischen Wohlgefallen      
  23 zusammenstimmen.      
           
  24 Ein jeder Affect von der wackern Art (der nämlich das Bewußtsein      
  25 unserer Kräfte jeden Widerstand zu überwinden ( animi strenui ) rege      
  26 macht) ist ästhetisch erhaben, z. B. der Zorn, sogar die Verzweiflung      
  27 (nämlich die entrüstete, nicht aber die verzagte). Der Affect von der      
  28 schmelzenden Art aber (welcher die Bestrebung zu widerstehen selbst zum      
  29 Gegenstande der Unlust ( animum languidum ) macht) hat nichts Edeles      
           
    *)Affecten sind von Leidenschaften specifisch unterschieden. Jene beziehen sich bloß auf das Gefühl; diese gehören dem Begehrungsvermögen an und sind Neigungen, welche alle Bestimmbarkeit der Willkür durch Grundsätze erschweren oder unmöglich machen. Jene sind stürmisch und unvorsätzlich, diese anhaltend und überlegt: so ist der Unwille als Zorn ein Affect; aber als Haß (Rachgier) eine Leidenschaft. Die letztere kann niemals und in keinem Verhältniß erhaben genannt werden: weil im Affect die Freiheit des Gemüths zwar gehemmt, in der Leidenschaft aber aufgehoben wird.      
           
     

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