Kant: AA V, Kritik der Urtheilskraft ... , Seite 225 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 | Vorzug nicht: eben darum weil, da sie nicht einfach sind, man keinen Maßstab | ||||||
02 | der Beurtheilung hat, ob man sie rein oder unrein nennen solle. | ||||||
03 | Was aber die dem Gegenstande seiner Form wegen beigelegte Schönheit, | ||||||
04 | sofern sie, wie man meint, durch Reiz wohl gar könne erhöht werden, | ||||||
05 | anlangt, so ist dies ein gemeiner und dem ächten, unbestochenen, gründlichen | ||||||
06 | Geschmacke sehr nachtheiliger Irrthum; ob sich zwar allerdings | ||||||
07 | neben der Schönheit auch noch Reize hinzufügen lassen, um das Gemüth | ||||||
08 | durch die Vorstellung des Gegenstandes außer dem trockenen Wohlgefallen | ||||||
09 | noch zu interessiren und so dem Geschmacke und dessen Cultur zur Anpreisung | ||||||
10 | zu dienen, vornehmlich wenn er noch roh und ungeübt ist. Aber | ||||||
11 | sie thun wirklich dem Geschmacksurtheile Abbruch, wenn sie die Aufmerksamkeit | ||||||
12 | als Beurtheilungsgründe der Schönheit auf sich ziehen. Denn es | ||||||
13 | ist so weit gefehlt, daß sie dazu beitrügen, daß sie vielmehr als Fremdlinge, | ||||||
14 | nur sofern sie jene schöne Form nicht stören, wenn der Geschmack | ||||||
15 | noch schwach und ungeübt ist, mit Nachsicht müssen aufgenommen werden. | ||||||
16 | In der Malerei, Bildhauerkunst, ja allen bildenden Künsten, in der | ||||||
17 | Baukunst, Gartenkunst, sofern sie schöne Künste sind, ist die Zeichnung | ||||||
18 | das wesentliche, in welcher nicht, was in der Empfindung vergnügt sondern | ||||||
19 | bloß was durch seine Form gefällt, den Grund aller Anlage für den | ||||||
20 | Geschmack ausmacht. Die Farben, welche den Abriß illuminiren, gehören | ||||||
21 | zum Reiz; den Gegenstand an sich können sie zwar für die Empfindung | ||||||
22 | belebt, aber nicht anschauungswürdig und schön machen: vielmehr werden | ||||||
23 | sie durch das, was die schöne Form erfordert, mehrentheils gar sehr eingeschränkt | ||||||
24 | und selbst da, wo der Reiz zugelassen wird, durch die erstere allein | ||||||
25 | veredelt. | ||||||
26 | Alle Form der Gegenstände der Sinne (der äußern sowohl als mittelbar | ||||||
27 | auch des innern) ist entweder Gestalt, oder Spiel; im letztern Falle | ||||||
28 | entweder Spiel der Gestalten (im Raume die Mimik und der Tanz); oder | ||||||
29 | bloßes Spiel der Empfindungen (in der Zeit). Der Reiz der Farben, | ||||||
30 | oder angenehmer Töne des Instruments kann hinzukommen, aber die | ||||||
31 | Zeichnung in der ersten und die Composition in dem letzten machen den | ||||||
32 | eigentlichen Gegenstand des reinen Geschmacksurtheils aus; und daß die | ||||||
33 | Reinigkeit der Farben sowohl als der Töne, oder auch die Mannigfaltigkeit | ||||||
34 | derselben und ihre Abstechung zur Schönheit beizutragen scheint, will | ||||||
35 | nicht so viel sagen, daß sie darum, weil sie für sich angenehm sind, gleichsam | ||||||
36 | einen gleichartigen Zusatz zu dem Wohlgefallen an der Form abgeben, | ||||||
37 | sondern weil sie diese letztere nur genauer, bestimmter und vollständiger | ||||||
[ Seite 224 ] [ Seite 226 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |