Kant: AA IV, Metaphysische Anfangsgründe ... , Seite 472

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Damit aber die Anwendung der Mathematik auf die Körperlehre,      
  02 die durch sie allein Naturwissenschaft werden kann, möglich werde, so müssen      
  03 Principien der Construction der Begriffe, welche zur Möglichkeit      
  04 der Materie überhaupt gehören, vorangeschickt werden; mithin wird eine      
  05 vollständige Zergliederung des Begriffs von einer Materie überhaupt zum      
  06 Grunde gelegt werden müssen, welches ein Geschäfte der reinen Philosophie      
  07 ist, die zu dieser Absicht sich keiner besonderen Erfahrungen, sondern nur      
  08 dessen, was sie im abgesonderten (obzwar an sich empirischen) Begriffe      
  09 selbst antrifft, in Beziehung auf die reinen Anschauungen im Raume und      
  10 der Zeit (nach Gesetzen, welche schon dem Begriffe der Natur überhaupt      
  11 wesentlich anhängen) bedient, mithin eine wirkliche Metaphysik der      
  12 körperlichen Natur ist.      
           
  13 Alle Naturphilosophen, welche in ihrem Geschäfte mathematisch verfahren      
  14 wollten, haben sich daher jederzeit (obschon sich selbst unbewußt)      
  15 metaphysischer Principien bedient und bedienen müssen, wenn sie sich gleich      
  16 sonst wider allen Anspruch der Metaphysik auf ihre Wissenschaft feierlich      
  17 verwahrten. Ohne Zweifel verstanden sie unter der letzteren den Wahn,      
  18 sich Möglichkeiten nach Belieben auszudenken und mit Begriffen zu spielen,      
  19 die sich in der Anschauung vielleicht gar nicht darstellen lassen und      
  20 keine andere Beglaubigung ihrer objectiven Realität haben, als daß sie      
  21 blos mit sich selbst nicht im Widerspruche stehen. Alle wahre Metaphysik      
  22 ist aus dem Wesen des Denkungsvermögens selbst genommen und keinesweges      
  23 darum erdichtet, weil sie nicht von der Erfahrung entlehnt ist, sondern      
  24 enthält die reinen Handlungen des Denkens, mithin Begriffe und      
  25 Grundsätze a priori, welche das Mannigfaltige empirischer Vorstellungen      
  26 allererst in die gesetzmäßige Verbindung bringt, dadurch es empirisches      
  27 Erkenntniß, d. i. Erfahrung, werden kann. So konnten also      
  28 jene mathematische Physiker metaphysischer Principien gar nicht entbehren      
  29 und unter diesen auch nicht solcher, welche den Begriff ihres eigentlichen      
  30 Gegenstandes, nämlich der Materie, a priori zur Anwendung auf äußere      
  31 Erfahrung tauglich machen, als des Begriffs der Bewegung, der Erfüllung      
  32 des Raums, der Trägheit u. s. w.. Darüber aber blos empirische      
  33 Grundsätze gelten zu lassen, hielten sie mit Recht der apodiktischen Gewißheit,      
  34 die sie ihren Naturgesetzen geben wollten, gar nicht gemäß, daher sie      
  35 solche lieber postulirten, ohne nach ihren Quellen a priori zu forschen.      
           
  36 Es ist aber von der größten Wichtigkeit zum Vortheil der Wissenschaften      
  37 ungleichartige Principien von einander zu scheiden, jede in ein      
           
     

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