Kant: AA IV, Grundlegung zur Metaphysik der ... , Seite 429

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Princip des Willens ausmacht, mithin zum allgemeinen praktischen Gesetz      
  02 dienen kann. Der Grund dieses Princips ist: die vernünftige Natur      
  03 existirt als Zweck an sich selbst. So stellt sich nothwendig der Mensch      
  04 sein eignes Dasein vor; so fern ist es also ein subjectives Princip menschlicher      
  05 Handlungen. So stellt sich aber auch jedes andere vernünftige Wesen      
  06 sein Dasein zufolge eben desselben Vernunftgrundes, der auch für mich      
  07 gilt, vor *); also ist es zugleich ein objectives Princip, woraus als einem      
  08 obersten praktischen Grunde alle Gesetze des Willens müssen abgeleitet      
  09 werden können. Der praktische Imperativ wird also folgender sein:      
  10 Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als      
  11 in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck,      
  12 niemals bloß als Mittel brauchst. Wir wollen sehen, ob sich dieses      
  13 bewerkstelligen lasse.      
           
  14 Um bei den vorigen Beispielen zu bleiben, so wird      
  15 Erstlich nach dem Begriffe der nothwendigen Pflicht gegen sich selbst      
  16 derjenige, der mit Selbstmorde umgeht, sich fragen, ob seine Handlung      
  17 mit der Idee der Menschheit als Zwecks an sich selbst zusammen bestehen      
  18 könne. Wenn er, um einem beschwerlichen Zustande zu entfliehen,      
  19 sich selbst zerstört, so bedient er sich einer Person bloß als eines Mittels      
  20 zu Erhaltung eines erträglichen Zustandes bis zu Ende des Lebens. Der      
  21 Mensch aber ist keine Sache, mithin nicht etwas, das bloß als Mittel      
  22 gebraucht werden kann, sondern muß bei allen seinen Handlungen jederzeit      
  23 als Zweck an sich selbst betrachtet werden. Also kann ich über den Menschen      
  24 in meiner Person nichts disponiren, ihn zu verstümmeln, zu verderben,      
  25 oder zu tödten. (Die nähere Bestimmung dieses Grundsatzes zur Vermeidung      
  26 alles Mißverstandes, z. B. der Amputation der Glieder, um mich      
  27 zu erhalten, der Gefahr, der ich mein Leben aussetze, um mein Leben zu      
  28 erhalten etc., muß ich hier vorbeigehen; sie gehört zur eigentlichen Moral.)      
           
  29 Zweitens, was die nothwendige oder schuldige Pflicht gegen andere      
  30 betrifft, so wird der, so ein lügenhaftes Versprechen gegen andere zu thun      
  31 im Sinne hat, sofort einsehen, daß er sich eines andern Menschen bloß      
  32 als Mittels bedienen will, ohne daß dieser zugleich den Zweck in sich      
  33 enthalte. Denn der, den ich durch ein solches Versprechen zu meinen Absichten      
  34 brauchen will, kann unmöglich in meine Art, gegen ihn zu verfahren,      
           
    *) Diesen Satz stelle ich hier als Postulat auf. Im letzten Abschnitte wird man die Gründe dazu finden.      
           
     

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