Kant: AA IV, Prolegomena zu einer jeden ... , Seite 381

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 zu gelangen. Mathematik, Naturwissenschaft, Gesetze, Künste, selbst Moral      
  02 etc. füllen die Seele noch nicht gänzlich aus; es bleibt immer noch ein      
  03 Raum in ihr übrig, der für die bloße reine und speculative Vernunft abgestochen      
  04 ist, und dessen Leere uns zwingt, in Fratzen oder Tändelwerk      
  05 oder auch Schwärmerei dem Scheine nach Beschäftigung und Unterhaltung,      
  06 im Grunde aber nur Zerstreuung zu suchen, um den beschwerlichen Ruf      
  07 der Vernunft zu übertäuben, die ihrer Bestimmung gemäß etwas verlangt,      
  08 was sie für sich selbst befriedige und nicht blos zum Behuf anderer Absichten      
  09 oder zum Interesse der Neigungen in Geschäftigkeit versetze. Daher      
  10 hat eine Betrachtung, die sich blos mit diesem Umfange der für sich selbst      
  11 bestehenden Vernunft beschäftigt, darum weil eben in demselben alle andere      
  12 Kenntnisse, sogar Zwecke zusammenstoßen und sich in ein Ganzes vereinigen      
  13 müssen, wie ich mit Grunde vermuthe, für jedermann, der es nur      
  14 versucht hat, seine Begriffe so zu erweitern, einen großen Reiz, und ich      
  15 darf wohl sagen, einen größeren als jedes andere theoretische Wissen, welches      
  16 man gegen jenes nicht leichtlich eintauschen würde.      
           
  17 Ich schlage aber darum diese Prolegomena zum Plane und Leitfaden      
  18 der Untersuchung vor und nicht das Werk selbst, weil ich mit diesem zwar,      
  19 was den Inhalt, die Ordnung und Lehrart und die Sorgfalt betrifft, die      
  20 auf jeden Satz gewandt worden, um ihn genau zu wägen und zu prüfen,      
  21 ehe ich ihn hinstellte, auch noch jetzt ganz wohl zufrieden bin (denn es haben      
  22 Jahre dazu gehört, mich nicht allein von dem Ganzen, sondern bisweilen      
  23 auch nur von einem einzigen Satze in Ansehung seiner Quellen      
  24 völlig zu befriedigen), aber mit meinem Vortrage in einigen Abschnitten      
  25 der Elementarlehre, z. B. der Deduction der Verstandesbegriffe oder dem      
  26 von den Paralogismen der reinen Vernunft, nicht völlig zufrieden bin,      
  27 weil eine gewisse Weitläuftigkeit in denselben die Deutlichkeit hindert, an      
  28 deren statt man das, was hier die Prolegomenen in Ansehung dieser Abschnitte      
  29 sagen, zum Grunde der Prüfung legen kann.      
           
  30 Man rühmt von den Deutschen, daß, wozu Beharrlichkeit und anhaltender      
  31 Fleiß erforderlich sind, sie es darin weiter als andere Völker bringen      
  32 können. Wenn diese Meinung gegründet ist, so zeigt sich hier nun      
  33 eine Gelegenheit, ein Geschäfte, an dessen glücklichem Ausgange kaum zu      
  34 zweifeln ist, und woran alle denkende Menschen gleichen Antheil nehmen,      
  35 welches doch bisher nicht gelungen war, zur Vollendung zu bringen und      
  36 jene vortheilhafte Meinung zu bestätigen; vornehmlich da die Wissenschaft,      
  37 welche es betrifft, von so besonderer Art ist, daß sie auf einmal zu ihrer      
           
     

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