Kant: AA IV, Prolegomena zu einer jeden ... , Seite 369 |
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Text (Kant):
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| 01 | gerechter, als der: daß Metaphysik als Wissenschaft bisher noch gar nicht | ||||||
| 02 | existirt habe. | ||||||
| 03 | Nur zwei Dinge muß ich im Fall, daß die Ausforderung angenommen | ||||||
| 04 | wird, verbitten: erstlich das Spielwerk von Wahrscheinlichkeit und | ||||||
| 05 | Muthmaßung, welches der Metaphysik eben so schlecht ansteht als der | ||||||
| 06 | Geometrie; zweitens die Entscheidung vermittelst der Wünschelruthe des | ||||||
| 07 | so genannten gesunden Menschenverstandes, die nicht jedermann | ||||||
| 08 | schlägt, sondern sich nach persönlichen Eigenschaften richtet. | ||||||
| 09 | Denn was das erstere anlangt, so kann wohl nichts Ungereimteres | ||||||
| 10 | gefunden werden, als in einer Metaphysik, einer Philosophie aus | ||||||
| 11 | reiner Vernunft, seine Urtheile auf Wahrscheinlichkeit und Muthmaßung | ||||||
| 12 | gründen zu wollen. Alles, was a priori erkannt werden soll, wird eben | ||||||
| 13 | dadurch für apodiktisch gewiß ausgegeben und muß also auch so bewiesen | ||||||
| 14 | werden. Man könnte eben so gut eine Geometrie oder Arithmetik auf | ||||||
| 15 | Muthmaßungen gründen wollen; denn was den calculus probabilium der | ||||||
| 16 | letzteren betrifft, so enthält er nicht wahrscheinliche, sondern ganz gewisse | ||||||
| 17 | Urtheile über den Grad der Möglichkeit gewisser Fälle unter gegebenen | ||||||
| 18 | gleichartigen Bedingungen, die in der Summe aller möglichen Fälle ganz | ||||||
| 19 | unfehlbar der Regel gemäß zutreffen müssen, ob diese gleich in Ansehung | ||||||
| 20 | jedes einzelnen Zufalles nicht gnug bestimmt ist. Nur in der empirischen | ||||||
| 21 | Naturwissenschaft können Muthmaßungen (vermittelst der Induction und | ||||||
| 22 | Analogie) gelitten werden, doch so, daß wenigstens die Möglichkeit dessen, | ||||||
| 23 | was ich annehme, völlig gewiß sein muß. | ||||||
| 24 | Mit der Berufung auf den gesunden Menschenverstand, | ||||||
| 25 | wenn von Begriffen und Grundsätzen, nicht so fern sie in Ansehung der | ||||||
| 26 | Erfahrung gültig sein sollen, sondern so fern sie auch außer den Bedingungen | ||||||
| 27 | der Erfahrung für geltend ausgegeben werden wollen, die Rede | ||||||
| 28 | ist, ist es wo möglich noch schlechter bewandt. Denn was ist der gesunde | ||||||
| 29 | Verstand? Es ist der gemeine Verstand, so fern er richtig urtheilt. | ||||||
| 30 | Und was ist nun der gemeine Verstand? Er ist das Vermögen der Erkenntniß | ||||||
| 31 | und des Gebrauchs der Regeln in concreto zum Unterschiede des | ||||||
| 32 | speculativen Verstandes, welcher ein Vermögen der Erkenntniß der | ||||||
| 33 | Regeln in abstracto ist. So wird der gemeine Verstand die Regel, daß | ||||||
| 34 | alles, was geschieht, vermittelst seiner Ursache bestimmt sei, kaum verstehen, | ||||||
| 35 | niemals aber so im allgemeinen einsehen können. Er fordert daher | ||||||
| 36 | ein Beispiel aus Erfahrung, und wenn er hört, daß dieses nichts anders | ||||||
| 37 | bedeute, als was er jederzeit gedacht hat, wenn ihm eine Fensterscheibe | ||||||
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