Kant: AA IV, Prolegomena zu einer jeden ... , Seite 321 |
|||||||
Zeile:
|
Text (Kant):
|
|
|
||||
01 | dieses Gesetzes nachgeht, daß es allein von der Bedingung, die der Verstand | ||||||
02 | der Construction dieser Figur zum Grunde legte, nämlich der Gleichheit | ||||||
03 | der Halbmesser, könne abgeleitet werden. Erweitern wir diesen Begriff | ||||||
04 | nun, die Einheit mannigfaltiger Eigenschaften geometrischer Figuren | ||||||
05 | unter gemeinschaftlichen Gesetzen noch weiter zu verfolgen, und betrachten | ||||||
06 | den Cirkel als einen Kegelschnitt, der also mit andern Kegelschnitten unter | ||||||
07 | eben denselben Grundbedingungen der Construction steht, so finden wir, | ||||||
08 | daß alle Sehnen, die sich innerhalb der letztern, der Ellipse, der Parabel | ||||||
09 | und Hyperbel, schneiden, es jederzeit so thun, daß die Rectangel aus ihren | ||||||
10 | Theilen zwar nicht gleich sind, aber doch immer in gleichen Verhältnissen | ||||||
11 | gegen einander stehen. Gehen wir von da noch weiter, nämlich zu den | ||||||
12 | Grundlehren der physischen Astronomie, so zeigt sich ein über die ganze | ||||||
13 | materielle Natur verbreitetes physisches Gesetz der wechselseitigen Attraction, | ||||||
14 | deren Regel ist, daß sie umgekehrt mit dem Quadrat der Entfernungen | ||||||
15 | von jedem anziehenden Punkt eben so abnimmt, wie die Kugelflächen, in | ||||||
16 | die sich diese Kraft verbreitet, zunehmen, welches als nothwendig in der | ||||||
17 | Natur der Dinge selbst zu liegen scheint und daher auch als a priori erkennbar | ||||||
18 | vorgetragen zu werden pflegt. So einfach nun auch die Quellen | ||||||
19 | dieses Gesetzes sind, indem sie blos auf dem Verhältnisse der Kugelflächen | ||||||
20 | von verschiedenen Halbmessern beruhen, so ist doch die Folge davon so | ||||||
21 | vortrefflich in Ansehung der Mannigfaltigkeit ihrer Zusammenstimmung | ||||||
22 | und Regelmäßigkeit derselben, daß nicht allein alle mögliche Bahnen der | ||||||
23 | Himmelskörper in Kegelschnitten, sondern auch ein solches Verhältniß derselben | ||||||
24 | unter einander erfolgt, daß kein ander Gesetz der Attraction als | ||||||
25 | das des umgekehrten Quadratverhältnisses der Entfernungen zu einem | ||||||
26 | Weltsystem als schicklich erdacht werden kann. | ||||||
27 | Hier ist also Natur, die auf Gesetzen beruht, welche der Verstand | ||||||
28 | a priori erkennt und zwar vornehmlich aus allgemeinen Principien der | ||||||
29 | Bestimmung des Raums. Nun frage ich: liegen diese Naturgesetze im | ||||||
30 | Raume, und lernt sie der Verstand, indem er den reichhaltigen Sinn, der | ||||||
31 | in jenem liegt, blos zu erforschen sucht, oder liegen sie im Verstande und | ||||||
32 | in der Art, wie dieser den Raum nach den Bedingungen der synthetischen | ||||||
33 | Einheit, darauf seine Begriffe insgesammt auslaufen, bestimmt? Der | ||||||
34 | Raum ist etwas so Gleichförmiges und in Ansehung aller besondern Eigenschaften | ||||||
35 | so Unbestimmtes, daß man in ihm gewiß keinen Schatz von Naturgesetzen | ||||||
36 | suchen wird. Dagegen ist das, was den Raum zur Cirkelgestalt, | ||||||
37 | der Figur des Kegels und der Kugel bestimmt, der Verstand, so fern er | ||||||
[ Seite 320 ] [ Seite 322 ] [ Inhaltsverzeichnis ] |