Kant: AA IV, Prolegomena zu einer jeden ... , Seite 282

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 die Anschauung alsdann ohne einen weder vorher, noch jetzt gegenwärtigen      
  02 Gegenstand, worauf sie sich bezöge, stattfinden müßte und also nicht Anschauung      
  03 sein könnte. Begriffe sind zwar von der Art, daß wir uns einige      
  04 derselben, nämlich die, so nur das Denken eines Gegenstandes überhaupt      
  05 enthalten, ganz wohl a priori machen können, ohne daß wir uns in einem      
  06 unmittelbaren Verhältnisse zum Gegenstand befänden, z. B. den Begriff      
  07 von Größe, von Ursache etc.; aber selbst diese bedürfen doch, um ihnen Bedeutung      
  08 und Sinn zu verschaffen, einen gewissen Gebrauch in concreto ,      
  09 d. i. Anwendung auf irgend eine Anschauung, dadurch uns ein Gegenstand      
  10 derselben gegeben wird. Allein wie kann Anschauung des Gegenstandes      
  11 vor dem Gegenstande selbst vorhergehen?      
           
  12
§ 9.
     
           
  13 Müßte unsre Anschauung von der Art sein, daß sie Dinge vorstellte,      
  14 so wie sie an sich selbst sind, so würde gar keine Anschauung a priori      
  15 stattfinden, sondern sie wäre allemal empirisch. Denn was in dem Gegenstande      
  16 an sich selbst enthalten sei, kann ich nur wissen, wenn er mir      
  17 gegenwärtig und gegeben ist. Freilich ist es auch alsdann unbegreiflich,      
  18 wie die Anschauung einer gegenwärtigen Sache mir diese sollte zu erkennen      
  19 geben, wie sie an sich ist, da ihre Eigenschaften nicht in meine Vorstellungskraft      
  20 hinüber wandern können; allein die Möglichkeit davon eingeräumt,      
  21 so würde doch dergleichen Anschauung nicht a priori stattfinden, d.i. ehe      
  22 mir noch der Gegenstand vorgestellt würde: denn ohne das kann kein Grund      
  23 der Beziehung meiner Vorstellung auf ihn erdacht werden, sie müßte      
  24 denn auf Eingebung beruhen. Es ist also nur auf eine einzige Art möglich,      
  25 daß meine Anschauung vor der Wirklichkeit des Gegenstandes vorhergehe      
  26 und als Erkenntniß a priori stattfinde, wenn sie nämlich nichts      
  27 anders enthält, als die Form der Sinnlichkeit, die in meinem      
  28 Subject vor allen wirklichen Eindrücken vorhergeht, dadurch      
  29 ich von Gegenständen afficirt werde. Denn daß Gegenstände der      
  30 Sinne dieser Form der Sinnlichkeit gemäß allein angeschaut werden können,      
  31 kann ich a priori wissen. Hieraus folgt: daß Sätze, die blos diese      
  32 Form der sinnlichen Anschauung betreffen, von Gegenständen der Sinne      
  33 möglich und gültig sein werden, imgleichen umgekehrt, daß Anschauungen,      
  34 die a priori möglich sind, niemals andere Dinge als Gegenstände unsrer      
  35 Sinne betreffen können.      
           
           
     

[ Seite 281 ] [ Seite 283 ] [ Inhaltsverzeichnis ]