Kant: AA IV, Prolegomena zu einer jeden ... , Seite 262 |
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| 01 | daß es eine ganz neue Wissenschaft sei, von welcher niemand auch nur den | ||||||
| 02 | Gedanken vorher gefaßt hatte, wovon selbst die bloße Idee unbekannt | ||||||
| 03 | war, und wozu von allem bisher Gegebenen nichts genutzt werden konnte, | ||||||
| 04 | als allein der Wink, den Humes Zweifel geben konnten, der gleichfalls | ||||||
| 05 | nichts von einer dergleichen möglichen förmlichen Wissenschaft ahndete, | ||||||
| 06 | sondern sein Schiff, um es in Sicherheit zu bringen, auf den Strand (den | ||||||
| 07 | Scepticism) setzte, da es denn liegen und verfaulen mag, statt dessen es | ||||||
| 08 | bei mir darauf ankommt, ihm einen Piloten zu geben, der nach sicheren | ||||||
| 09 | Principien der Steuermannskunst, die aus der Kenntniß des Globus gezogen | ||||||
| 10 | sind, mit einer vollständigen Seekarte und einem Compaß versehen, | ||||||
| 11 | das Schiff sicher führen könne, wohin es ihm gut dünkt. | ||||||
| 12 | Zu einer neuen Wissenschaft, die gänzlich isolirt und die einzige ihrer | ||||||
| 13 | Art ist, mit dem Vorurtheil gehen, als könne man sie vermittelst seiner | ||||||
| 14 | schon sonst erworbenen vermeinten Kenntnisse beurtheilen, obgleich die es | ||||||
| 15 | eben sind, an deren Realität zuvor gänzlich gezweifelt werden muß, bringt | ||||||
| 16 | nichts anders zuwege, als daß man allenthalben das zu sehen glaubt, was | ||||||
| 17 | einem schon sonst bekannt war, weil etwa die Ausdrücke jenem ähnlich | ||||||
| 18 | lauten: nur daß einem alles äußerst verunstaltet, widersinnisch und kauderwelsch | ||||||
| 19 | vorkommen muß, weil man nicht die Gedanken des Verfassers, | ||||||
| 20 | sondern immer nur seine eigene, durch lange Gewohnheit zur Natur gewordene | ||||||
| 21 | Denkungsart dabei zum Grunde legt. Aber die Weitläuftigkeit | ||||||
| 22 | des Werks, so fern sie in der Wissenschaft selbst und nicht dem Vortrage | ||||||
| 23 | gegründet ist, die dabei unvermeidliche Trockenheit und scholastische Pünktlichkeit | ||||||
| 24 | sind Eigenschaften, die zwar der Sache selbst überaus vortheilhaft | ||||||
| 25 | sein mögen, dem Buche selbst aber allerdings nachtheilig werden müssen. | ||||||
| 26 | Es ist zwar nicht jedermann gegeben, so subtil und doch zugleich so | ||||||
| 27 | anlockend zu schreiben als David Hume, oder so gründlich und dabei | ||||||
| 28 | so elegant als Moses Mendelssohn; allein Popularität hätte ich meinem | ||||||
| 29 | Vortrage (wie ich mir schmeichele) wohl geben können, wenn es mir nur | ||||||
| 30 | darum zu thun gewesen wäre, einen Plan zu entwerfen und dessen Vollziehung | ||||||
| 31 | andern anzupreisen, und mir nicht das Wohl der Wissenschaft, | ||||||
| 32 | die mich so lange beschäftigt hielt, am Herzen gelegen hätte; denn übrigens | ||||||
| 33 | gehörte viel Beharrlichkeit und auch selbst nicht wenig Selbstverläugnung | ||||||
| 34 | dazu, die Anlockung einer früheren, günstigen Aufnahme der Aussicht auf | ||||||
| 35 | einen zwar späten, aber dauerhaften Beifall nachzusetzen. | ||||||
| 36 | Plane machen ist mehrmals eine üppige prahlerische Geistesbeschäftigung, | ||||||
| 37 | dadurch man sich ein Ansehen von schöpferischem Genie giebt, | ||||||
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