Kant: AA IV, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 194

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01
B.
     
  02
Vom logischen Gebrauche der Vernunft.
     
           
  03 Man macht einen Unterschied zwischen dem, was unmittelbar erkannt,      
  04 und dem, was nur geschlossen wird. Daß in einer Figur, die durch      
  05 drei gerade Linien begränzt ist, drei Winkel sind, wird unmittelbar erkannt,      
  06 daß diese Winkel aber zusammen zwei rechten gleich sind, ist nur      
  07 geschlossen. Weil wir des Schließens beständig bedürfen und es dadurch      
  08 endlich ganz gewohnt werden, so bemerken wir zuletzt diesen Unterschied      
  09 nicht mehr und halten oft, wie bei dem sogenannten Betruge der Sinne,      
  10 etwas für unmittelbar wahrgenommen, was wir doch nur geschlossen      
  11 haben. Bei jedem Schlusse ist ein Satz, der zum Grunde liegt, ein andrer,      
  12 nämlich die Folgerung, die aus jenem gezogen wird, endlich die      
  13 Schlußfolge (Consequenz), nach welcher die Wahrheit des letzteren unausbleiblich      
  14 mit der Wahrheit des ersteren verknüpft ist. Liegt das geschlossene      
  15 Urtheil schon so in dem ersten, daß es ohne Vermittelung einer dritten      
  16 Vorstellung daraus abgeleitet werden kann, so heißt der Schluß unmittelbar      
  17 ( consequentia immediata ); ich möchte ihn lieber den Verstandesschluß      
  18 nennen. Ist aber außer der zum Grunde gelegten Erkenntniß noch ein      
  19 anderes Urtheil nöthig, um die Folge zu bewirken, so heißt der Schluß      
  20 ein Vernunftschluß. In dem Satze: alle Menschen sind sterblich,      
  21 liegen schon die Sätze: einige Menschen sind sterblich, oder: einige Sterbliche      
  22 sind Menschen, oder: nichts, was unsterblich ist, ist ein Mensch; und      
  23 diese sind also unmittelbare Folgerungen aus dem ersteren. Dagegen liegt      
  24 der Satz: alle Gelehrte sind sterblich, nicht in dem untergelegten Urtheile      
  25 (denn der Begriff der Gelehrten kommt in ihm gar nicht vor), und er      
  26 kann nur vermittelst eines Zwischenurtheils aus diesem gefolgert werden.      
           
  27 In jedem Vernunftschlusse denke ich zuerst eine Regel ( maior ) durch      
  28 den Verstand. Zweitens subsumire ich ein Erkenntniß unter die Bedingung      
  29 der Regel ( minor ) vermittelst der Urtheilskraft. Endlich bestimme      
  30 ich mein Erkenntniß durch das Prädicat der Regel ( conclusio ),      
  31 mithin a priori durch die Vernunft. Das Verhältniß also, welches der      
  32 Obersatz als die Regel zwischen einer Erkenntniß und ihrer Bedingung      
  33 vorstellt, macht die verschiedene Arten der Vernunftschlüsse aus. Sie      
  34 sind also gerade dreifach, so wie alle Urtheile überhaupt, so fern sie sich in      
  35 der Art unterscheiden, wie sie das Verhältniß des Erkenntnisses im Verstande      
           
     

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