Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 508

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 der auf Ewigkeiten sich erstreckenden Fortdauer eines Geschöpfs, dessen      
  02 Leben unter so unerheblichen und unserer Freiheit so ganz und gar überlassenen      
  03 Umständen zuerst angefangen hat. Was die Fortdauer der ganzen      
  04 Gattung (hier auf Erden) betrifft, so hat diese Schwierigkeit in Ansehung      
  05 derselben wenig auf sich, weil der Zufall im Einzelnen nichts desto      
  06 weniger einer Regel im Ganzen unterworfen ist; aber in Ansehung eines      
  07 jeden Individuum eine so mächtige Wirkung von so geringfügigen Ursachen      
  08 zu erwarten, scheint allerdings bedenklich. Hiewider könnt ihr aber      
  09 eine transscendentale Hypothese aufbieten: daß alles Leben eigentlich nur      
  10 intelligibel sei, den Zeitveränderungen gar nicht unterworfen, und weder      
  11 durch Geburt angefangen habe, noch durch den Tod geendigt werde; daß      
  12 dieses Leben nichts als eine bloße Erscheinung, d. i. eine sinnliche Vorstellung      
  13 von dem reinen geistigen Leben, und die ganze Sinnenwelt ein      
  14 bloßes Bild sei, welches unserer jetzigen Erkenntnißart vorschwebt und      
  15 wie ein Traum an sich keine objective Realität habe; daß, wenn wir die      
  16 Sachen und uns selbst anschauen sollen, wie sie sind, wir uns in einer      
  17 Welt geistiger Naturen sehen würden, mit welcher unsere einzig wahre      
  18 Gemeinschaft weder durch Geburt angefangen habe, noch durch den Leibestod      
  19 (als bloße Erscheinungen) aufhören werde, u. s. w.      
           
  20 Ob wir nun gleich von allem diesem, was wir hier wider den Angriff      
  21 hypothetisch vorschützen, nicht das mindeste Wissen, noch im Ernste      
  22 behaupten, sondern alles nicht einmal Vernunftidee, sondern bloß zur Gegenwehr      
  23 ausgedachter Begriff ist, so verfahren wir doch hiebei ganz      
  24 vernunftmäßig, indem wir dem Gegner, welcher alle Möglichkeit erschöpft      
  25 zu haben meint, indem er den Mangel ihrer empirischen Bedingungen für      
  26 einen Beweis der gänzlichen Unmöglichkeit des von uns geglaubten fälschlich      
  27 ausgiebt, nur zeigen: daß er eben so wenig durch bloße Erfahrungsgesetze      
  28 das ganze Feld möglicher Dinge an sich selbst umspannen, als wir      
  29 außerhalb der Erfahrung für unsere Vernunft irgend etwas auf gegründete      
  30 Art erwerben können. Der solche hypothetische Gegenmittel wider      
  31 die Anmaßungen des dreist verneinenden Gegners vorkehrt, muß nicht dafür      
  32 gehalten werden, als wolle er sie sich als seine wahre Meinungen eigen      
  33 machen. Er verläßt sie, sobald er den dogmatischen Eigendünkel des Gegners      
  34 abgefertigt hat. Denn so bescheiden und gemäßigt es auch anzusehen      
  35 ist, wenn jemand sich in Ansehung fremder Behauptungen bloß weigernd      
  36 und verneinend verhält, so ist doch jederzeit, sobald er diese seine Einwürfe      
  37 als Beweise des Gegentheils geltend machen will, der Anspruch nicht weniger      
           
     

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