Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 506 |
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01 | nicht im dogmatischen, aber doch im polemischen Gebrauche. Ich verstehe | ||||||
02 | aber unter Vertheidigung nicht die Vermehrung der Beweisgründe seiner | ||||||
03 | Behauptung, sondern die bloße Vereitelung der Scheineinsichten des Gegners, | ||||||
04 | welche unserem behaupteten Satze Abbruch thun sollen. nun haben | ||||||
05 | aber alle synthetische Sätze aus reiner Vernunft das Eigenthümliche an | ||||||
06 | sich: daß, wenn der, welcher die Realität gewisser Ideen behauptet, gleich | ||||||
07 | niemals so viel weiß, um diesen seinen Satz gewiß zu machen, auf der | ||||||
08 | andern Seite der Gegner eben so wenig wissen kann, um das Widerspiel | ||||||
09 | zu behaupten. Diese Gleichheit des Looses der menschlichen Vernunft begünstigt | ||||||
10 | nun zwar im speculativen Erkenntnisse keinen von beiden, und | ||||||
11 | da ist auch der rechte Kampfplatz nimmer beizulegender Fehden. Es wird | ||||||
12 | sich aber in der Folge zeigen, daß doch in Ansehung des praktischen | ||||||
13 | Gebrauchs die Vernunft ein Recht habe, etwas anzunehmen, was sie | ||||||
14 | auf keine Weise im Felde der bloßen Speculation ohne hinreichende Beweisgründe | ||||||
15 | vorauszusetzen befugt wäre, weil alle solche Voraussetzungen | ||||||
16 | der Vollkommenheit der Speculation Abbruch thun, um welche sich aber | ||||||
17 | das praktische Interesse gar nicht bekümmert. Dort ist sie also im Besitze, | ||||||
18 | dessen Rechtmäßigkeit sie nicht beweisen darf, und wovon sie in der That | ||||||
19 | den Beweis auch nicht führen könnte. Der Gegner soll also beweisen. Da | ||||||
20 | dieser aber eben so wenig etwas von dem bezweifelten Gegenstande weiß, | ||||||
21 | um dessen Nichtsein darzuthun, als der erstere, der dessen Wirklichkeit behauptet: | ||||||
22 | so zeigt sich hier ein Vortheil auf der Seite desjenigen, der etwas | ||||||
23 | als praktisch nothwendige Voraussetzung behauptet ( melior est conditio | ||||||
24 | possidentis ). Es steht ihm nämlich frei, sich gleichsam aus Nothwehr | ||||||
25 | eben derselben Mittel für seine gute Sache, als der Gegner wider dieselbe, | ||||||
26 | d. i. der Hypothesen, zu bedienen, die gar nicht dazu dienen sollen, um den | ||||||
27 | Beweis derselben zu verstärken, sondern nur, zu zeigen, daß der Gegner | ||||||
28 | viel zu wenig von dem Gegenstande des Streits verstehe, als daß er sich | ||||||
29 | eines Vortheils der speculativen Einsicht in Ansehung unserer schmeicheln | ||||||
30 | könne. | ||||||
31 | Hypothesen sind also im Felde der reinen Vernunft nur als Kriegswaffen | ||||||
32 | erlaubt, nicht um darauf ein Recht zu gründen, sondern nur es zu | ||||||
33 | vertheidigen. Den Gegner aber müssen wir hier jederzeit in uns selbst | ||||||
34 | suchen. Denn speculative Vernunft in ihrem transscendentalen Gebrauche | ||||||
35 | ist an sich dialektisch. Die Einwürfe, die zu fürchten sein möchten, liegen | ||||||
36 | in uns selbst. Wir müssen sie gleich alten, aber niemals verjährenden | ||||||
37 | Ansprüchen hervorsuchen, um einen ewigen Frieden auf deren Vernichtigung | ||||||
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