Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 484 |
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01 | Des ersten Hauptstücks |
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02 | Zweiter Abschnitt. |
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03 | Die Disciplin der reinen Vernunft in Ansehung ihres |
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04 | polemischen Gebrauchs. |
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05 | Die Vernunft muß sich in allen ihren Unternehmungen der Kritik | ||||||
06 | unterwerfen und kann der Freiheit derselben durch kein Verbot Abbruch | ||||||
07 | thun, ohne sich selbst zu schaden und einen ihr nachtheiligen Verdacht auf | ||||||
08 | sich zu ziehen. Da ist nun nichts so wichtig in Ansehung des Nutzens, nichts | ||||||
09 | so heilig, das sich dieser prüfenden und musternden Durchsuchung, die | ||||||
10 | kein Ansehen der Person kennt, entziehen dürfte. Auf dieser Freiheit beruht | ||||||
11 | sogar die Existenz der Vernunft, die kein dictatorisches Ansehen hat, | ||||||
12 | sondern deren Ausspruch jederzeit nichts als die Einstimmung freier Bürger | ||||||
13 | ist, deren jeglicher seine Bedenklichkeiten, ja sogar sein veto ohne Zurückhalten | ||||||
14 | muß äußern können. | ||||||
15 | Ob nun aber gleich die Vernunft sich der Kritik niemals verweigern | ||||||
16 | kann, so hat sie doch nicht jederzeit Ursache, sie zu scheuen. Aber die | ||||||
17 | reine Vernunft in ihrem dogmatischen (nicht mathematischen) Gebrauche | ||||||
18 | ist sich nicht so sehr der genauesten Beobachtung ihrer obersten Gesetze bewußt, | ||||||
19 | daß sie nicht mit Blödigkeit, ja mit gänzlicher Ablegung alles angemaßten | ||||||
20 | dogmatischen Ansehens vor dem kritischen Auge einer höheren | ||||||
21 | und richterlichen Vernunft erscheinen müßte. | ||||||
22 | Ganz anders ist es bewandt, wenn sie es nicht mit der Censur des | ||||||
23 | Richters, sondern den Ansprüchen ihres Mitbürgers zu thun hat und sich | ||||||
24 | dagegen bloß vertheidigen soll. Denn da diese eben sowohl dogmatisch sein | ||||||
25 | wollen, obzwar im Verneinen, als jene im Bejahen: so findet eine Rechtfertigung | ||||||
26 | κατ' ανθροπον statt, die wider alle Beeinträchtigung sichert und | ||||||
27 | einen titulirten Besitz verschafft, der keine fremde Anmaßungen scheuen | ||||||
28 | darf, ob er gleich selbst κατ' αληθειαν nicht hinreichend bewiesen werden | ||||||
29 | kann. | ||||||
30 | Unter dem polemischen Gebrauche der reinen Vernunft verstehe ich | ||||||
31 | nun die Vertheidigung ihrer Sätze gegen die dogmatischen Verneinungen | ||||||
32 | derselben. Hier kommt es nun nicht darauf an, ob ihre Behauptungen | ||||||
33 | nicht vielleicht auch falsch sein möchten, sondern nur, daß niemand das | ||||||
34 | Gegentheil jemals mit apodiktischer Gewißheit (ja auch nur mit größerem | ||||||
35 | Scheine) behaupten könne. Denn wir sind alsdann doch nicht bittweise | ||||||
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