Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 449

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 durch Eröffnung neuer Wege, die der Verstand nicht kennt, ins Unendliche      
  02 (Unbestimmte) zu befördern und zu befestigen, ohne dabei jemals      
  03 den Gesetzen des empirischen Gebrauchs im Mindesten zuwider zu sein.      
           
  04 Die Vernunft kann aber diese systematische Einheit nicht anders      
  05 denken, als daß sie ihrer Idee zugleich einen Gegenstand giebt, der aber      
  06 durch keine Erfahrung gegeben werden kann; denn Erfahrung giebt niemals      
  07 ein Beispiel vollkommener systematischer Einheit. Dieses Vernunftwesen      
  08 ( ens rationis ratiocinatae ) ist nun zwar eine bloße Idee und wird      
  09 also nicht schlechthin und an sich selbst als etwas Wirkliches angenommen,      
  10 sondern nur problematisch zum Grunde gelegt (weil wir es durch keine      
  11 Verstandesbegriffe erreichen können), um alle Verknüpfung der Dinge der      
  12 Sinnenwelt so anzusehen, als ob sie in diesem Vernunftwesen ihren      
  13 Grund hätten, lediglich aber in der Absicht, um darauf die systematische      
  14 Einheit zu gründen, die der Vernunft unentbehrlich, der empirischen Verstandeserkenntniß      
  15 aber auf alle Weise beförderlich und ihr gleichwohl niemals      
  16 hinderlich sein kann.      
           
  17 Man verkennt sogleich die Bedeutung dieser Idee, wenn man sie      
  18 für die Behauptung oder auch nur die Voraussetzung einer wirklichen      
  19 Sache hält, welcher man den Grund der systematischen Weltverfassung      
  20 zuzuschreiben gedächte; vielmehr läßt man es gänzlich unausgemacht, was      
  21 der unseren Begriffen sich entziehende Grund derselben an sich für Beschaffenheit      
  22 habe, und setzt sich nur eine Idee zum Gesichtspunkte, aus      
  23 welchem einzig und allein man jene der Vernunft so wesentliche und dem      
  24 Verstande so heilsame Einheit verbreiten kann; mit einem Worte: dieses      
  25 transscendentale Ding ist bloß das Schema jenes regulativen Princips,      
  26 wodurch die Vernunft, so viel an ihr ist, systematische Einheit über alle      
  27 Erfahrung verbreitet.      
           
  28 Das erste Object einer solchen Idee bin ich selbst, bloß als denkende      
  29 Natur (Seele) betrachtet. Will ich die Eigenschaften, mit denen ein denkend      
  30 Wesen an sich existirt, aufsuchen, so muß ich die Erfahrung befragen,      
  31 und selbst von allen Kategorien kann ich keine auf diesen Gegenstand anwenden,      
  32 als in so fern das Schema derselben in der sinnlichen Anschauung      
  33 gegeben ist. Hiemit gelange ich aber niemals zu einer systematischen Einheit      
  34 aller Erscheinungen des inneren Sinnes. Statt des Erfahrungsbegriffs      
  35 also (von dem, was die Seele wirklich ist), der uns nicht weit      
  36 führen kann, nimmt die Vernunft den Begriff der empirischen Einheit      
  37 alles Denkens und macht dadurch, daß sie diese Einheit unbedingt und      
           
     

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