Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 235

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 daß der Irrthum nur durch den unbemerkten Einfluß der Sinnlichkeit auf      
  02 den Verstand bewirkt werde, wodurch es geschieht, daß die subjectiven      
  03 Gründe des Urtheils mit den objectiven zusammenfließen und diese von      
  04 ihrer Bestimmung abweichend machen*) ; so wie ein bewegter Körper zwar      
  05 für sich jederzeit die gerade Linie in derselben Richtung halten würde, die      
  06 aber, wenn eine andere Kraft nach einer andern Richtung zugleich auf      
  07 ihn einfließt, in krummlinige Bewegung ausschlägt. Um die eigenthümliche      
  08 Handlung des Verstandes von der Kraft, die sich mit einmengt, zu      
  09 unterscheiden, wird es daher nöthig sein, das irrige Urtheil als die Diagonale      
  10 zwischen zwei Kräften anzusehen, die das Urtheil nach zwei verschiedenen      
  11 Richtungen bestimmen, die gleichsam einen Winkel einschließen,      
  12 und jene zusammengesetzte Wirkung in die einfache des Verstandes und      
  13 der Sinnlichkeit aufzulösen; welches in reinen Urtheilen a priori durch      
  14 transscendentale Überlegung geschehen muß, wodurch (wie schon angezeigt      
  15 worden) jeder Vorstellung ihre Stelle in der ihr angemessenen Erkenntnißkraft      
  16 angewiesen, mithin auch der Einfluß der letzteren auf jene unterschieden      
  17 wird.      
           
  18 Unser Geschäfte ist hier nicht, vom empirischen Scheine (z. B. dem      
  19 optischen) zu handeln, der sich bei dem empirischen Gebrauche sonst richtiger      
  20 Verstandesregeln vorfindet, und durch welchen die Urtheilskraft durch      
  21 den Einfluß der Einbildung verleitet wird; sondern wir haben es mit dem      
  22 transscendentalen Scheine allein zu thun, der auf Grundsätze einfließt,      
  23 deren Gebrauch nicht einmal auf Erfahrung angelegt ist, als in      
  24 welchem Falle wir doch wenigstens einen Probirstein ihrer Richtigkeit      
  25 haben würden, sondern der uns selbst wider alle Warnungen der Kritik      
  26 gänzlich über den empirischen Gebrauch der Kategorien wegführt, und uns      
  27 mit dem Blendwerke einer Erweiterung des reinen Verstandes hinhält.      
  28 Wir wollen die Grundsätze, deren Anwendung sich ganz und gar in den      
  29 Schranken möglicher Erfahrung hält, immanente, diejenigen aber,      
  30 welche diese Grenzen überfliegen sollen, transscendente Grundsätze      
  31 nennen. Ich verstehe aber unter diesen nicht den transscendentalen      
           
    *) Die Sinnlichkeit, dem Verstande untergelegt, als das Object, worauf dieser seine Function anwendet, ist der Quell realer Erkenntnisse. Eben dieselbe aber, so fern sie auf die Verstandeshandlung selbst einfließt und ihn zum Urtheilen bestimmt, ist der Grund des Irrthums.      
           
     

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