Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 038 |
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01 | Eben so wenig ist irgend ein Grundsatz der reinen Geometrie analytisch. | ||||||
02 | Daß die gerade Linie zwischen zwei Punkten die kürzeste sei, ist ein | ||||||
03 | synthetischer Satz. Denn mein Begriff vom Geraden enthält nichts von | ||||||
04 | Größe, sondern nur eine Qualität. Der Begriff des Kürzesten kommt | ||||||
05 | also gänzlich hinzu und kann durch keine Zergliederung aus dem Begriffe | ||||||
06 | der geraden Linie gezogen werden. Anschauung muß also hier zu | ||||||
07 | Hülfe genommen werden, vermittelst deren allein die Synthesis möglich ist. | ||||||
08 | Einige wenige Grundsätze, welche die Geometer voraussetzen, sind | ||||||
09 | zwar wirklich analytisch und beruhen auf dem Satze des Widerspruchs; | ||||||
10 | sie dienen aber auch nur wie identische Sätze zur Kette der Methode und | ||||||
11 | nicht als Principien, z. B. a = a , das Ganze ist sich selber gleich, oder | ||||||
12 | (a+b) größer als a , d. i. das Ganze ist größer als sein Theil. Und doch auch | ||||||
13 | diese selbst, ob sie gleich nach bloßen Begriffen gelten, werden in der | ||||||
14 | Mathematik nur darum zugelassen, weil sie in der Anschauung können dargestellt | ||||||
15 | werden. Was uns hier gemeiniglich glauben macht, als läge das | ||||||
16 | Prädicat solcher apodiktischen Urtheile schon in unserm Begriffe, und das | ||||||
17 | Urtheil sei also analytisch, ist bloß die Zweideutigkeit des Ausdrucks. Wir | ||||||
18 | sollen nämlich zu einem gegebenen Begriffe ein gewisses Prädicat hinzudenken, | ||||||
19 | und diese Nothwendigkeit haftet schon an den Begriffen. Aber die | ||||||
20 | Frage ist nicht, was wir zu dem gegebenen Begriffe hinzu denken sollen, | ||||||
21 | sondern was wir wirklich in ihm, obzwar nur dunkel, denken, und da | ||||||
22 | zeigt sich, daß das Prädicat jenen Begriffen zwar nothwendig, aber nicht | ||||||
23 | als im Begriffe selbst gedacht, sondern vermittelst einer Anschauung, die | ||||||
24 | zu dem Begriffe hinzukommen muß, anhänge. | ||||||
25 | 2. Naturwissenschaft ( Physica ) enthält synthetische Urtheile | ||||||
26 | a priori als Principien in sich. Ich will nur ein paar Sätze zum | ||||||
27 | Beispiel anführen, als den Satz, daß in allen Veränderungen der körperlichen | ||||||
28 | Welt die Quantität der Materie unverändert bleibe, oder daß in | ||||||
29 | aller Mittheilung der Bewegung Wirkung und Gegenwirkung jederzeit | ||||||
30 | einander gleich sein müssen. An beiden ist nicht allein die Nothwendigkeit, | ||||||
31 | mithin ihr Ursprung a priori, sondern auch, daß sie synthetische Sätze | ||||||
32 | sind, klar. Denn in dem Begriffe der Materie denke ich mir nicht die | ||||||
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