Kant: AA I, Von den Ursachen der ... , Seite 426

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 der stärkste unter allen Beweisen zu sein, die man jemals vorgebracht      
  02 hat, die unterirdische Gemeinschaft der mittelländischen Gewässer mit dem      
  03 Meere zu beweisen. Man müßte sich, um sich aus der Schwierigkeit, die      
  04 dagegen aus dem Gleichgewichte gemacht werden kann, heraus zu wickeln,      
  05 vorstellen, das Wasser eines Sees flösse wirklich durch die Canäle, dadurch      
  06 es mit dem Meer zusammen hängt, beständig abwärts, weil dieselbe aber      
  07 enge sind, und das, was sie dadurch verlieren, hinlänglich durch die Bäche      
  08 und Ströme, die hereinfließen, ersetzt wird, so könne dieser Abfluß um deswillen      
  09 nicht merklich werden.      
           
  10 Wiewohl in einer so seltsamen Begebenheit man nicht leicht ein übereiltes      
  11 Urtheil fällen soll. Denn es ist nicht unmöglich, daß die Erregung      
  12 der inländischen Seen auch aus andern Gründen könne hergekommen sein.      
  13 Die unterirdische Luft, durch den Ausbruch dieses wüthenden Feuers in      
  14 Bewegung gesetzt, könnte wohl durch die Spalten der Erdlagen sich hindurch      
  15 dringen, die ihr außer dieser gewaltsamen Ausspannung allen Durchgang      
  16 verschließen. Die Natur entdeckt sich nur nach und nach. Man soll      
  17 nicht durch Ungeduld das, was sie vor uns verbirgt, ihr durch Erdichtung      
  18 abzurathen suchen, sondern abwarten, bis sie ihre Geheimnisse in deutlichen      
  19 Wirkungen ungezweifelt offenbart.      
           
  20 Die Ursache der Erdbeben scheint bis in den Luftkreis ihre Wirkung      
  21 auszubreiten. Einige Stunden vorher, ehe die Erde erschüttert wird, hat      
  22 man öfters einen rothen Himmel und andere Merkmale einer veränderten      
  23 Luftbeschaffenheit wahrgenommen. Die Thiere sind kurz zuvor ganz von      
  24 Schrecken eingenommen. Die Vögel flüchten in die Häuser; Ratzen und      
  25 Mäuse kriechen aus ihren Löchern. In diesem Augenblicke bricht unfehlbar      
  26 der erhitzte Dunst, welcher auf dem Punkte ist sich zu entzünden, durch      
  27 das obere Gewölbe der Erde. Ich getraü mir nicht auszumachen, was      
  28 für Wirkungen man von ihm zu gewarten habe. Zum wenigsten sind sie      
  29 für den Naturforscher nicht angenehm, denn was kann er sich für Hoffnung      
  30 machen, hinter die Gesetze zu kommen, nach welchen die Veränderungen      
  31 des Luftkreises einander abwechseln, wenn sich eine unterirdische Atmosphäre      
  32 mit in ihre Wirkungen mengt, und kann man wohl zweifeln, daß      
  33 dieses nicht öfters geschehen müsse, da sonst kaum begreiflich wäre, wie in      
  34 dem Wechsel der Witterungen, da die Ursachen derselben theils beständig      
  35 theils periodisch sind, gar keine Wiederkehr angetroffen wird?      
           
           
     

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