Kant: AA I, Allgemeine Naturgeschichte und ... , Seite 356 |
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| 01 | die Fähigkeiten seiner denkenden Natur auch die gehörigen | ||||||
| 02 | Grade der Vollkommenheit und erlangen allererst ein gesetztes und | ||||||
| 03 | männliches Vermögen, wenn die Fasern seiner Werkzeuge die Festigkeit | ||||||
| 04 | und Dauerhaftigkeit überkommen haben, welche die Vollendung | ||||||
| 05 | ihrer Ausbildung ist. Diejenigen Fähigkeiten entwickeln sich bei ihm | ||||||
| 06 | früh genug, durch welche er der Nothdurft, die die Abhängigkeit von | ||||||
| 07 | den äußerlichen Dingen ihm zuzieht, genug thun kann. Bei einigen | ||||||
| 08 | Menschen bleibt es bei diesem Grade der Auswickelung. Das Vermögen, | ||||||
| 09 | abgezogene Begriffe zu verbinden und durch eine freie Anwendung | ||||||
| 10 | der Einsichten über den Hang der Leidenschaften zu herrschen, | ||||||
| 11 | findet sich spät ein, bei einigen niemals in ihrem ganzen Leben; bei | ||||||
| 12 | allen aber ist es schwach: es dient den unteren Kräften, über die es | ||||||
| 13 | doch herrschen sollte, und in deren Regierung der Vorzug seiner Natur | ||||||
| 14 | besteht. Wenn man das Leben der meisten Menschen ansieht: so scheint | ||||||
| 15 | diese Creatur geschaffen zu sein, um wie eine Pflanze Saft in sich zu | ||||||
| 16 | ziehen und zu wachsen, sein Geschlecht fortzusetzen, endlich alt zu werden | ||||||
| 17 | und zu sterben. Er erreicht unter allen Geschöpfen am wenigsten den | ||||||
| 18 | Zweck seines Daseins, weil er seine vorzügliche Fähigkeiten zu solchen | ||||||
| 19 | Absichten verbraucht, die die übrigen Creaturen mit weit minderen | ||||||
| 20 | und doch weit sicherer und anständiger erreichen. Er würde auch das | ||||||
| 21 | verachtungswürdigste unter allen zum wenigsten in den Augen der | ||||||
| 22 | wahren Weisheit sein, wenn die Hoffnung des Künftigen ihn nicht erhübe, | ||||||
| 23 | und den in ihm verschlossenen Kräften nicht die Periode einer | ||||||
| 24 | völligen Auswickelung bevorstände. | ||||||
| 25 | Wenn man die Ursache der Hindernisse untersucht, welche die | ||||||
| 26 | menschliche Natur in einer so tiefen Erniedrigung erhalten: so findet | ||||||
| 27 | sie sich in der Grobheit der Materie, darin sein geistiger Theil versenkt | ||||||
| 28 | ist, in der Unbiegsamkeit der Fasern und der Trägheit und Unbeweglichkeit | ||||||
| 29 | der Säfte, welche dessen Regungen gehorchen sollen. Die | ||||||
| 30 | Nerven und Flüssigkeiten seines Gehirnes liefern ihm nur grobe und | ||||||
| 31 | undeutliche Begriffe, und weil er der Reizung der sinnlichen Empfindungen | ||||||
| 32 | in dem Inwendigen seines Denkungsvermögens nicht genugsam | ||||||
| 33 | kräftige Vorstellungen zum Gleichgewichte entgegen stellen kann: so | ||||||
| 34 | wird er von seinen Leidenschaften hingerissen, von dem Getümmel der | ||||||
| 35 | Elemente, die seine Maschine unterhalten, übertäubt und gestört. Die | ||||||
| 36 | Bemühungen der Vernunft, sich dagegen zu erheben und diese Verwirrung | ||||||
| 37 | durch das Licht der Urtheilskraft zu vertreiben, sind wie die | ||||||
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