Kant: AA I, Untersuchung der Frage, ob die ... , Seite 187 |
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| 01 | zuverlässigen Grund allhier abgiebt, an dem man eine sichere Prüfung | ||||||
| 02 | anstellen kann. | ||||||
| 03 | Wenn die Erde eine ganz feste Masse ohne alle Flüssigkeiten wäre, | ||||||
| 04 | so würde die Anziehung weder der Sonne noch des Mondes etwas | ||||||
| 05 | thun, ihre freie Achsendrehung zu verändern; denn sie zieht die östliche | ||||||
| 06 | sowohl als die westliche Theile der Erdkugel mit gleicher Kraft und | ||||||
| 07 | verursacht dadurch keinen Hang weder nach der einen, noch der andern | ||||||
| 08 | Seite, folglich läßt sie die Erde in völliger Freiheit, diese Umdrehung | ||||||
| 09 | so wie ohne allen äußerlichen Einfluß ungehindert fortzusetzen. In | ||||||
| 10 | dem Falle aber, daß die Masse eines Planeten eine beträchtliche | ||||||
| 11 | Quantität des flüssigen Elements in sich faßt, so werden die vereinigte | ||||||
| 12 | Anziehungen des Mondes und der Sonne, indem sie diese flüssige | ||||||
| 13 | Materie bewegen, der Erde einen Theil dieser Erschütterung eindrücken. | ||||||
| 14 | Die Erde ist in solchen Umständen. Das Gewässer des | ||||||
| 15 | Oceans bedeckt wenigstens den dritten Theil ihrer Oberfläche und ist | ||||||
| 16 | durch die Attraction der gedachten Himmelskörper in unaufhörlicher | ||||||
| 17 | Bewegung und zwar nach einer Seite, die der Achsendrehung gerade | ||||||
| 18 | entgegen gerichtet ist. Es verdient also erwogen zu werden, ob diese | ||||||
| 19 | Ursache nicht der Umwälzung einige Veränderung zuzuziehen vermögend | ||||||
| 20 | sei. Die Anziehung des Mondes, welche den größten Antheil an | ||||||
| 21 | dieser Wirkung hat, hält das Gewässer des Oceans in unaufhörlicher | ||||||
| 22 | Aufwallung, dadurch es zu den Punkten gerade unterm Mond sowohl | ||||||
| 23 | auf der ihm zu=, als von ihm abgekehrten Seite hinzuzufließen und | ||||||
| 24 | sich zu erheben bemüht ist; und weil diese Punkte der Aufschwellung | ||||||
| 25 | von Morgen gegen Abend fortrücken: so theilen sie dem Weltmeere | ||||||
| 26 | eine beständige Fortströmung nach eben dieser Gegend in seinem | ||||||
| 27 | ganzen Inhalte mit. Die Erfahrung der Seefahrenden hat schon längst | ||||||
| 28 | diese allgemeine Bewegung außer Zweifel gesetzt, und sie wird am | ||||||
| 29 | deutlichsten in den Meerengen und Meerbusen bemerkt, wo das Gewässer, | ||||||
| 30 | indem es durch eine enge Straße laufen muß, seine Geschwindigkeit | ||||||
| 31 | vermehrt. Da diese Fortströmung nun der Drehung der Erde | ||||||
| 32 | gerade entgegen gesetzt ist, so haben wir eine Ursache, auf die wir sicher | ||||||
| 33 | rechnen können, daß sie jene, so viel an ihr ist, unaufhörlich zu | ||||||
| 34 | schwächen und zu vermindern bemüht ist. | ||||||
| 35 | Es ist wahr, wenn man die Langsamkeit dieser Bewegung mit | ||||||
| 36 | der Schnelligkeit der Erde, die Geringschätzigkeit der Quantität des | ||||||
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