Quelle Nummer 469
Rubrik 13 : GESCHICHTE Unterrubrik 13.03 : TEILGEBIETE
FIRMENGESCHICHTE
UDO HERGENROEDER
MAENNER DIE ERFOLG ERFINDEN
(TECHNIKER UND WISSENSCHAFTLER ALS MOTOREN DER WIRT-
SCHAFT)
ECON VERLAG, DUESSELDORF/WIEN 1970, S.165-
001 " Denken ", sagt der Chemiker Dr. Hermann Schnell,
002 " kann ich auch anderswo. " Er hält, anders als die Mehrzahl der
003 Bayer-Direktoren, die Bürozeit genau ein, er kommt
004 pünktlich um 7.30 Uhr und geht um 17 Uhr. " Denken ",
005 sagt der Bayer-Direktor Schnell, " kann ich nicht delegieren. "
006 Er delegiert daher, anders als die Mehrzahl der Direktoren
007 in deutschen Firmen, Verwaltungs-Aufgaben und
008 Organisations-Aufgaben an seine Mitarbeiter. Der Forscher
009 und Inhaber von mehr als 300 Patenten nimmt sich viel Zeit zum
010 Denken. " Denn Denken ", so Erfinder Schnell, " ist ein
011 wesentlicher Teil meiner Arbeit. " Dr. rer. nat.
012 Hermann Schnell, Jahrgang 1916, erdachte für die
013 Farbenfabriken Bayer AG einen ihrer erfolgreichsten und
014 zukunftsträchtigsten Kunststoffe: Das Makrolon, einen wärme
015 festen, druckfesten und bruchfesten Kunststoff
016 - von den Chemikern thermoplastisches Polycarbonat genannt und
017 aus den häufig gebräuchlichen Rohstoffen Phenol, Azeton und
018 Kohlensäure hergestellt. (Die Polycarbonate sind Polyester der
019 Kohlensäure). Dank des Geistesblitzes von Hermann Schnell,
020 der heute als Direktor das Bayer-Hauptforschungslaboratorium
021 in Uerdingen leitet, besitzt Deutschlands größter Chemie-
022 Trust das Weltmonopol für die weltweit benötigten Polycarbonate
023 (PC). Allein im Bayer-Werk Ürdingen wird die
024 Jahresproduktion bald 100000 Tonnen betragen und Bayers
025 Weltumsatz mit Makrolon über eine halbe Milliarde Mark ansteigen.
026 Doch fast wäre der einfallsreiche Forscher der chemischen
027 Industrie vorenthalten worden. Denn der 20jährige Hermann
028 Schnell wollte lieber Lehrer werden. Er hatte bereits die ersten
029 Vorlesungen für das höhere Lehramt an der Universität Freiburg
030 hinter sich, als er in Lehrgängen für angehende Studienräte auf
031 Hitlers Erziehungs-Ideologie getrimmt werden sollte. Dazu
032 hatte der Lehramts-Student keine Lust. Er sattelte um auf
033 Chemie. Dem 37jährigen Chemiker Hermann Schnell gelang dann
034 der große Wurf. Er war gerade von dem Bayer-
035 Hauptforschungslaboratorium Leverkusen nach Uerdingen gewechselt,
036 um hier ein zweites Forschungslaboratorium aufzubauen. Angeregt
037 durch die erfolgreiche Entwicklung von synthetischen Fasern auf
038 Polyesterbasis in England, ging der Bayer-Chemiker - und
039 mit ihm eine Vielzahl von Forschern in den Chemieküchen der
040 ganzen Welt - seit einiger Zeit mit der Idee schwanger,
041 hochschmelzende thermoplastische Polyester mit günstigen Werkstoff
042 -Eigenschaften zu finden. Im Uerdinger Bayer-Werk,
043 Schnells neuer Arbeitsstätte, wurde gerade mit Bisphenol A
044 (aus Phenol und Azeton hergestellt) und Phosgen (aus Chlor und
045 Kohlenmonoxyd) an anderen chemischen Produkten gearbeitet. " Da
046 jede Erfindung durch Kombination mehrerer Dinge entsteht ", kam
047 Hermann Schnell der Gedanke, " einmal Bisphenol A mit Phosgen
048 umzusetzen und zu sehen, was dabei herauskommt. " Zu Schnells
049 eigener Überraschung kam bereits beim ersten Laborversuch heraus,
050 wonach die Chemiewelt schon seit Jahren forschte: hochschmelzende
051 thermoplastische Polyester mit Kunststoffcharakter. Es waren
052 Polyester der Kohlensäure, genannt Polycarbonate, von Bayer
053 mit dem Markennamen Makrolon versehen. Unter den 5700 Bayer-
054 Produkten zählt das Polycarbonat Makrolon zu den interessantesten
055 und begehrtesten. Der Chemiekonzern liefert das Makrolon als
056 feines Granulat, in allen Farbvariationen oder glasklar, an die
057 kunststoffverarbeitende Industrie. Dort wird das Kunststoff-
058 Granulat, zumeist in Spritzguß-Maschinen (oder Extrudern)
059 zu Endprodukten verarbeitet - zu Tellern und Tassen,
060 Straßenlampen und Auto-Rückleuchten, Babyflaschen und
061 Kühlschrank-Boxen, Filmkassetten und Ferngläsern.
062 Hauptabnehmer von Makrolon und Makrolon-Teilen sind die
063 Elektro-Firmen wie etwa AEG, BBC und Siemens. Sie
064 benötigen große Mengen an Makrolon für die Wickelkörper von
065 Spulen, für Gehäuse von Haartrocknern und Elektroquirls, als
066 Chassis und durchsichtige Abdeckkappen von Stromzählern und
067 elektrischen Schaltgeräten, als Bauelement-Halterungen in
068 Radiogeräten und Fernsehgeräten, als Tonkopfhalter in
069 Magnetbandgeräten, für Starkstromstecker und Relais, für die
070 Schaltzentralen großer Kraftwerke, als Steckerleisten und
071 Gehäuse tragbarer Funksprechgeräte. Für Isolierzwecke gibt es
072 bereits Polycarbonat-Folien, die weit dünner sind als ein
073 Menschenhaar. Als es unter den Provos von Amsterdam Sitte
074 geworden war, aus Protest gegen das Etablishment nächtens die
075 Straßenbeleuchtungen durch Steinwurf zu demolieren, blieb dem
076 Amsterdamer Stadtrat nur noch die Flucht zu Straßenlampen aus
077 Makrolon. Der stabile Bayer-Kunststoff, ebenso durchsichtig
078 wie Fensterglas, ist zwar etwas teurer als die gängigen
079 Lampenabdeckungen, dafür aber kann ihnen ein Steinwurf nichts
080 anhaben. Ebenso schützen Polzisten und Demonstranten bei
081 Straßenkrawallen ihre Häupter mit Schutzhelmen aus Makrolon vor
082 Schlagstöcken und Steinen. Für friedlichere Zwecke
083 verarbeitete Melitta Schnells Polycarbonate zu ihren
084 Filtergeräten, und große Werkskantinen, wie Bayers
085 Zentralküche in Leverkusen, verwenden nur Geschirr aus Makrolon.
086 Es übersteht jeden Stoß und jede Wasserhitze in den
087 Geschirrspülmaschinen. " Eine sehr wesentliche Eigenschaft ",
088 preist Hermann Schnell sein Makrolon, " ist, daß es auch bei
089 kurzzeitigen Beanspruchungen und bei tiefen Temperaturen nicht
090 spröde wird, sondern zähelastisch bleibt. " Die Sicherheits
091 -Techniker des Bankgewerbes fanden diese Eigenschaft so wichtig,
092 daß heute schußsicher verkleidete Bankschalter durch
093 Glasscheiben mit einer Zwischenschicht Makrolon geschützt werden.
094 Ähnlichen Zweck erfüllen die Makrolon-Schlußleuchten von
095 Volvo, und schon sind die Glastechniker dabei, unzerbrechliche
096 Auto-Windschutzscheiben aus Makrolon zu formen. Verglichen
097 mit den anderen tonnenweise und preiswert hergestellten Kunststoffen
098 wie Polyäthylen und PVC sind Polycarbonate wegen der
099 Kombination vieler günstiger Eigenschaften als Werkstoffe
100 besonders geeignet: Die Kunststoffe aus Schnells Labor bleiben
101 bis minus 100 Grad Celsius zäh-elastisch und fest, behalten
102 ihre vorgegebene Form bis zu Temperaturen von 140 Grad Celsius,
103 schmelzen erst bei mehr als 200 Grad und brennen nur, wenn man sie
104 auf über 500 Grad erhitzt. Sie isolieren gegen Strom und Wärme,
105 riechen nicht, sind ungiftig, transparent und mit allen
106 Farbtönen pigmentierbar. So konnte Bayer für sein Makrolon
107 werben: Es " schließt die Lücke zwischen Metall und
108 Kunststoff ", und glasfaserverstärkt " kann es mit den
109 härtbaren verstärkten Kunstharzen und sogar mit Leichtmetall-
110 Legierungen verglichen werden ". Obgleich teurer als etwa
111 Polyäthylen und Polystryrol, stieg die Nachfrage nach Schnells
112 Polycarbonaten so rapide, daß die Bayer-Werke in Uerdingen
113 laufend ihre Produktions-Kapazität erweitern mußten. Noch
114 in seinem Geschäftsbericht 1968 lobte Bayer-
115 Vorstandsvorsitzer Dr. Kurt Hansen, der vom Bayer-
116 Hochhaus in Leverkusen den viertgrößten Chemiekonzern der Welt
117 mit insgesamt 92000 Beschäftigten und 10,5 Milliarden Mark
118 Jahresumsatz (1969) lenkt: " Hervorzuheben ist die gute
119 Entwicklung des Polycarbonats Makrolon; wir werden die
120 Produktionsanlagen auf 50000 Jahrestonnen ausbauen. " Schon 1970
121 planten die Bayer-Ingenieure den Ausbau auf 100000
122 Jahrestonnen Makrolon, zehn Jahre zuvor waren es erst 30 Tonnen
123 pro Jahr. " Lange Zeit war der Begriff Kunststoff
124 diskreditiert ". Dem Makrolon-Erfinder Hermann Schnell
125 geht somit der alte und ewige Erfindertraum in Erfüllung: Er
126 zieht finanziellen Nutzen aus seiner Erfindung, bevor die
127 Lizenzen für seine Patente ablaufen. Denn obwohl die Forscher
128 in den chemischen Laboratorien von USA und Japan bis Rußland
129 und der DDR fieberhaft nach dem Rezept für andere Polyester mit
130 ähnlich guten Eigenschaften forschten, blieb Schnells
131 Polycarbonat bislang unerreicht. General Electric, der größte
132 Elektro-Trust der Welt, und zwei japanische Kunststoff-
133 Hersteller erhielten von Bayer die Lizenz zur Produktion ihrer
134 Polycarbonate, ansonsten beliefert der deutsche Chemiekonzern,
135 der auch mit seiner US-Tochtergesellschaft Mobac Makrolon
136 herstellt, die kunststoffhungrige Welt aus eigener Produktion.
137 Für 1975 schätzt Hermann Schnell die Weltproduktion auf 200000
138 Jahrestonnen Polycarbonat, das entspricht dann einem Jahresumsatz
139 von etwa einer Milliarde Mark. Dennoch hat das Zeitalter der
140 Kunststoffe kaum begonnen. Erst 1n den 70er und 80er Jahren wird
141 das " Eisenzeitalter durch das Kunststoffzeitalter abgelöst ",
142 prophezeit der Berliner Chemie-Professor Herbert Kölbel.
143 Noch konnten sich die neuen Chemiewerkstoffe gegen die metallischen
144 Materialien nicht voll durchsetzen. Polycarbonat-Entdecker
145 Hermann Schnell weiß dafür eine Erklärung: " Wenn Sie in
146 der Entwicklung der Kunststoffe zurückgehen zu den Anfängen, so
147 war der Begriff Kunststoff weitläufig diskreditiert. Der
148 Endverbraucher sagte, das ist billiges Zeug, das geht leicht
149 kaputt. Und es bedurfte erst der Entwicklung der Kunststoff-
150 Technologie und der Erfindung und Entwicklung neuer
151 Kunststofftypen, um einen Wandel herbeizuführen, den wir heute
152 auch in der Nomenklatur durchgeführt haben. Nämlich die
153 Entwicklung zum Chemie-Werkstoff, zu einer neuen Gruppe von
154 Werkstoffen, die besondere, auch reproduzierbare Eigenschaften
155 haben. So daß der Ingenieur mit den entsprechenden Werten
156 konstruieren und arbeiten kann. Und gerade die Polycarbonate sind
157 in dieser Richtung entwickelt worden. Kunststoffe, aus denen man
158 nicht Wegwerfartikel macht, sondern Chemie-Werkstoffe, die
159 dem Ingenieur die Möglichkeit geben, in ganz bestimmten gezielten
160 Anwendungen bessere Produkte und Endprodukte herzustellen als mit
161 herkömmlichen Materialien. " Und Professor Kölbel lobt die
162 neuen Chemie-Werkstoffe so: " Sie sind anpassungsfähig an
163 die Erfordernisse der Produktion und können darüber hinaus
164 quantitativ immer neue Rohstoffquellen erschließen. " Mit
165 Vehemenz steuern Deutschlands Chemiekonzerne Bayer, Hoechst und
166 BASF in das Zukunftsland der Kunststoffe. Mit einem
167 Jahresverbrauch von 60 Pfund pro Kopf halten die Bundesbürger
168 bereits den synthetischen Weltrekord. Kunststoffe dienen, wenn
169 auch noch vereinzelt, als Fundamentwannen im Hochbau, als
170 Isoliermaterial für Wände und Dächer, als Fußbodenbeläge,
171 Möbellack und Polsterauflagen. Mehr als die Hälfte aller
172 Lebensmittel wird bereits heute in Plastikfolien verpackt, die
173 Hälfte aller Haushaltsgeräte ist aus Kunststoffen gefertigt.
174 Dem Kunststoff-Ski folgten Motorboote und Segeljachten aus
175 Polyester, Automobil-Karosserien und sogar ganze
176 Fertighäuser aus Kunststoff. Gut 3000 verschiedene Kunststoffe
177 und Kunstfasern werden heute industriell genutzt. Alle vier Jahre
178 verdoppeln die Nachfolgegesellschaften des ehemaligen Supertrusts
179 IG-Farben ihre Umsätze an Kunststoffen. Seit 1952 wuchs
180 das Geschäft der Chemieküchen von 9 Milliarden auf fast 40
181 Milliarden Mark. Die steil ansteigenden Umsätze, hohe Gewinne
182 und eine Flut immer neuer Erfindungen machten die Chemie-
183 Aktien zu den Spitzenwerten an der Börse. Mit einem
184 Grundkapital von 1,605 Milliarden Mark im Besitz von rund
185 322000 Aktionären sind die Farbenfabriken Bayer AG
186 Deutschlands größte Börsengesellschaft. Seit 1952 steckte
187 Bayer allein fast 3 Milliarden Mark in Forschung und Entwicklung,
188 davon 280 Millionen im Jahre 1969. Resultat dieser Forschungs
189 -Explosion sind 21000 Patente, die Bayer nach dem Krieg
190 erteilt bekam. Das ist ein Drittel aller seit der Firmengründung
191 1863 im Bayer-Besitz befindlichen Patente. Die Entwicklung
192 war so rasant, daß rund 70 Prozent des 10-Milliarden-DM
193 -Umsatzes von 1969 aus Produkten stammen, die vor 1948 nicht in
194 den Bayer-Werken hergestellt wurden. Zwei Erfolgs-
195 Kriterien: " Gutes Rüstzeug und Kombinations-Talent "
196 In der Karriere des Chemikers Hermann Schnell spiegelt sich
197 die ganze Forschungs-Dynamik der deutschen Nachkriegs-
198 Chemie wider. Mit einem einzigen Chemielaboranten in einem
199 reichlich veralteten Labor im Uerdinger Bayer-Verwaltungsbau
200 begann er 1953 mit seinen Polycarbonat-Versuchen und dem
201 Aufbau eines neuen Laboratoriums. Heute ist der Bayer-
202 Direktor Herr über ein Hauptlaboratorium mit fast 350
203 Beschäftigten, davon allein 50 promovierten Chemikern. 1947
204 meldete der ehrgeizige Jungchemiker, damals noch im Bayer-
205 Labor in Leverkusen, sein erstes Patent an. 1970 tragen fast 400
206 Patente und Patentanmeldungen den Namen Hermann Schnell, davon
207 drehen sich 50 um die Polycarbonate. Hermann Schnell, der
208 niemals zu Hause Pulver, Säuren oder Basen mixte und auch
209 seinen Lehrlingen das häusliche Experimentieren streng untersagt,
210 nennt für seine erfolgreiche Chemiker-Karriere zwei notwendige
211 Voraussetzungen: " Erstens ein gutes Rüstzeug in Hinblick auf
212 chemische Kenntnisse und Erfahrungen. " (Hermann Schnell
213 erhielt es durch die besten Lehrer, die er sich wünschen konnte:
214 Den Nobelpreisträger Hermann Staudinger und den einstigen
215 Forschungschef und jetzigen Aufsichtsratvorsitzenden von Bayer
216 Professor Dr. Otto Bayer). " Zweitens die Fähigkeit,
217 verschiedene Dinge zu kombinieren; Verknüpfungen zu schaffen;
218 verschiedene Informationen in eine sinnvolle Ordnung zu bringen und
219 Regeln vernünftigen Handelns daraus abzuleiten. " (Das ist
220 Hermann Schnells Erfindungsreichtum). Das zweite Erfolgs-
221 Kriterium interpretiert er weiter: " Um Erfolg in der
222 Forschung zu haben, braucht ein Chemiker einen gesunden Sinn für
223 das in der Technik Mögliche und Realisierbare; ein Sieb, aus
224 einer Fülle von Ideen und Gedanken alles das abzuziehen, was aus
225 dem einen oder anderen Grunde nicht durchführbar ist, und das
226 Wenige, das dann übrigbleibt, auch wirklich in die Tat
227 umzusetzen. " Denn: " Es ist nicht genug, daß man etwas
228 erfindet, man muß es auch merken, daß man etwas erfunden hat.
229 Und dann muß man es durch alle weiteren Instanzen durchboxen. "
230 Der kettenrauchende Chemiker, für den " das Schöne an der
231 Chemie immer noch das Abenteuer ist ", mußte sich schon von
232 Kindheit an durchboxen. Der Sohn wenig begüterter Eltern aus
233 dem Bodensee-Dorf Gaienhofen (zwischen Radolfszell und
234 Stein am Rhein) war praktisch gezwungen, stets die besten Noten
235 zu haben. Nur als Primus bekam er eine Freistelle im
236 Mädcheninternat Gaienhofen, wo er bis zur Untersekunda blieb.
237 Von dort wurde dem Klassenbesten ein Schulplatz in der " Hermann
238 Lietz Schloß Bieberstein " in der Rhön vermittelt. 1943
239 bestand er dort das Abitur mit Auszeichnung. Er hatte in fast
240 allen Fächern die Note sehr gut. Darüber scherzt heute der
241 Direktor Schnell: " Es ist ja in manchen Kreisen geradezu
242 anrüchig, das zu sagen. Es wird einem dann immer vorgehalten,
243 der Churchill ist durchs Abitur gefallen und trotzdem ein großer
244 Mann geworden. " Aber Churchill war Politiker, und Schnell
245 ist Naturwissenschaftler. Für ihn sind " gute Noten zwar keine
246 Gewähr für besondere Leistungen, aber schlechte Noten erst
247 recht nicht ". Schnells Studiengang war, wie damals für viele,
248 ein Weg voller Hindernisse. Als " besonders Begabter " wurde
249 er zwar in die " Studienstiftung des deutschen Volkes "
250 aufgenommen und damit der materiellen Studiensorgen enthoben, von
251 Arbeitsdienst, Militärzeit und Kriegsteilnahme blieb er aber
252 nicht verschont. So verlief sein Studium in Raten: Nach einem
253 halben Jahr Arbeitsdienst und zwei Jahren
254 Militärdienst immatrikulierte sich der Schüler vom Land an der
255 Universität Freiburg für das Höhere Lehramt in Mathematik,
256 Physik, Chemie. Der unerfahrene Schüler mit dem Super-
257 Zeugnis hegte " den Wunsch, Lehrer zu werden, weil der Lehrer
258 der Akademiker ist, mit dem man als erstes in Berührung kommt ".
259 Doch nach einem Vierteljahr wollte Hitlers Machtapparat erneut
260 auf den Stipendiaten zurückgreifen und ihn in Lehrer-
261 Lehrgängen ideologisch umschulen. Aber Hermann Schnell blieb
262 stur und wechselte 1937 in die Fakultät für Chemie. Da konnte
263 er sich nun in aller Ruhe zwei Jahre lang in die Welt der Formeln
264 hineinarbeiten. Die Studienruhe in dem idyllischen Schwarzwald
265 -Städtchen Freiburg war dahin, als der Krieg begann und die
266 Universität Freiburg geschlossen wurde. Hitlers Generalstäbler
267 befürchteten, der Krieg könne auf den Schwarzwald übergreifen.
268 Der Chemiekandidat Schnell wechselte daraufhin für ein Semester
269 nach Prag. Im Januar 1940 mußte er aber die Schulbank mit dem
270 grauen Feldrock tauschen und mit Hitlers Truppen gen Westen
271 marschieren. Nachdem die grauen Divisionen im Westen so schnell
272 vorangekommen waren, erhielt Leutnant Schnell Studienurlaub und
273 kam in Freiburg mit seiner Diplomarbeit noch schneller voran. Das
274 Chemie-Diplom im Tornister, mußte sich der Jungakademiker
275 nun in den Rußland-Feldzug einreihen. Dort erreichte ihn im
276 Juni 1943 völlig überraschend ein U. K.-
277 Stellungsbescheid. Der Freiburger Chemie-Professor Hermann
278 Staudinger, bei dem Hermann Schnell als Assistent arbeiten und
279 promovieren wollte, hatte Hitlers " Abteilung Osenberg " eine
280 Liste mit Forscher-Namen vorgelegt, die für die Forschung
281 in der Heimat benötigt würden. Ganz am Ende der Liste stand
282 auch der 27jährige Diplom-Chemiker Hermann Schnell. Und
283 ebenso überrascht wie er über die plötzliche U. K.-
284 Stellung war Professor Staudinger, als sein Assistent plötzlich
285 in Freiburg vor ihm stand.
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