Quelle Nummer 463
Rubrik 14 : VOLKSKUNDE Unterrubrik 14.00 : VOLKSKUNDE
LEHRBUCH DER VOELKERKUNDE
HERMANN TRIMBORN (HRSG.)
LEHRBUCH DER VOELKERKUNDE
FERDINAND ENKE VERLAG, STUTTGART 1971, S. 1-
001 Aufgaben und Verfahren der Völkerkunde. Die
002 Völkerkunde ist eine der Wissenschaften vom Menschen. Sie will
003 aufgrund empirischer Forschungen über die Kulturen grundsätzlich
004 aller Völker einen Beitrag zu unserem Menschenbild
005 leisten, der nach Trimborn " das Immerwiederkehrende
006 ebenso wie die Spielbreite des Menschenmöglichen aufzeigen soll ".
007 Wenn die Völkerkunde sich dabei vorwiegend, wenn auch
008 keineswegs ausschließlich, mit Völkern beschäftigt, die als
009 " primitive ", als " schriftlose ", als Natur-
010 Völker oder früher gar als " Wilde " bezeichnet wurden, so
011 liegt diese Abgrenzung ihres Gegenstandes
012 wissenschaftsgeschichtlich darin begründet, daß es im
013 Fächerkanon unserer Universitäten keine andere Disziplin gab und
014 gibt, die sich der Erforschung dieser Völker annimmt. Die
015 wissenssoziologisch bemerkenswerte Einteilung der Menschheit in
016 " primitive ", " barbarische " und " zivilisierte "
017 Gesellschaften beruht auf ethnozentrisch wertenden
018 Entwicklungsvorstellungen: Erst wir haben in einem langen
019 geschichtlichen Prozeß die volle Höhe der " Kultur " oder
020 " Zivilisation " erreicht, während die sog. " Naturvölker "
021 geschichtslos auf niederen Stufen der menschlichen Gesittung
022 verharren. Entgegen solchen vereinfachenden Vorurteilen, die
023 unserem Selbstbewußtsein schmeicheln und politische Eingriffe in
024 die Lebensweise dieser Völker scheinbar rechtfertigen, haben die
025 moderne Völkerkunde und ihre Nachbarwissenschaften festgestellt,
026 daß die Menschheit trotz der großen Spielbreite ihrer
027 Gesittungen und Gesellungen eine letzte biologische und
028 geschichtliche Einheit bildet. Die physische Anthropologie
029 weiß, daß alle derzeit lebenden Varietäten, die sog.
030 " Rassen " der Menschheit, zur einen Spezies (Art) Homo
031 sapiens gehören. Das Kriterium der Zugehörigkeit zur selben
032 biologischen Art bildet die Erzeugung fortpflanzungsfähigen
033 Nachwuchses aus der Verbindung " rassisch " verschiedener
034 Elternteile. Biologisch gesehen sind die genetischen und auch die
035 morphologischen Gemeinsamkeiten unter den rezenten Menschenrassen
036 größer als die Unterschiede im Vergleich zu allen anderen
037 Lebewesen. Die unterschiedlichen Rassen-Merkmale,
038 wie Hautfarbe, Körpergröße usw., bewegen sich allesamt
039 innerhalb einer Spielbreite, die im Vergleich zu den Subspezies
040 und Varietäten anderer Arten im Tierreich und
041 Pflanzenreich (und zwar auch unter wildlebenden Arten) relativ
042 geringfügig ist. Die biologische Einheit der menschlichen
043 Spezies ist auch für die Völkerkunde ein Tatbestand von
044 größter Bedeutung, läßt doch die gleiche physische
045 Grundveranlagung Rückschlüsse auf gleiche psychische Anlagen zu:
046 Nicht nur elementare sinnesphysiologische und sinnes
047 psychologische Vorgänge (Sehen, Hören, Schmecken usw.),
048 sondern auch " höhere " psychische Funktionen wie Gedächtnis
049 und Kombinationsgabe (Intelligenz) und die damit
050 zusammenhängende Sprachfähigkeit und Kulturfähigkeit
051 sind bei allen Varietäten der Spezies Homo sapiens
052 prinzipiell gleichartig ausgebildet, so unterschiedlich auch die
053 Inhalte der Wahrnehmung und Vorstellung, des Denkens und
054 Fühlens sein mögen. Der biologisch festgestellten Einheit der
055 Spezies Homo sapiens entspricht ethnologisch, daß uns
056 kein noch so " primitives " Volk der Erde bekannt geworden ist,
057 das nicht alle wesentlichen Bereiche der " selbsterschaffenen Welt
058 des Menschen " (Rothacker) ausgebildet hat. Es ist uns
059 kein Volk bekannt, das nicht die Sprache als wichtigstes
060 Mittel der Kommunikation und der gedanklichen Ordnung der Welt
061 verwendet. Ebenso kennen wir kein Volk, das nicht nach bestimmten
062 sozialen Ordnungen gegliedert wäre, die - im
063 Unterschied zu sozialen Organisationsformen 1m Tierreich - nicht
064 " instinktiv " angeboren, sondern variabel und begrifflich zu
065 einem System von Institutionen und Verhaltensregeln (Normen)
066 ausgebildet sind (z. B. Verwandtschaftsordnungen,
067 Rechtsregeln). Unter allen Menschengruppen wird ferner ein
068 wirtschaftliches Verhalten 1m Umgang mit knappen Gütern
069 beobachtet, das die planvolle Befriedigung der verschiedensten
070 Bedürfnisse nach Nahrung, Wohnung, Kleidung, sozialer
071 Auszeichnung und Sicherheit u. a. m. anstrebt. Dabei
072 bedient sich der Mensch allenthalben seiner technischen
073 Fähigkeit, als " tool making animal " Werkzeuge mit
074 Werkzeugen herzustellen (und nicht nur gelegentlich Objekte als
075 Werkzeuge zu gebrauchen) sowie Energiequellen, wie das Feuer,
076 zu erschließen. In allen Gesellschaften können wir auch den
077 Drang des Menschen beobachten, seine " selbsterschaffene Welt "
078 in eine ästhetische Form zu bringen - vom einfachen
079 Gebrauchsgegenstand bis hin zur phantastischen und doch
080 sinnerfüllten Welt der Mythen und Gesänge. Die bildenden
081 Künste, die Dichtung und die Musik sowie der
082 Tanz dienen bei vielen Völkern zugleich als
083 Ausdrucksmittel der religiösen Anschauung und des kultischen
084 Handelns. Schwangerschaft und Geburt, Aufzucht und
085 Erziehung der Kinder und Jugendlichen, der Eintritt ins
086 Erwachsenenalter und die damit verbundene Übernahme bestimmter
087 Rechte und Pflichten (sozialer Status) im " Beruf " und in
088 der Ehe sowie das Altern, Krankheit und Tod stellen die
089 Menschen aller Völker vor die gleichen Grundprobleme, und es
090 gehört zur Funktion jeder Kultur, auf diese " Herausforderungen "
091 bestimmte " Antworten " zu finden. Damit sind nur einige
092 Züge genannt, die aus ethnologischer Sicht die elementare
093 Einheit des Menschengeschlechts kennzeichnen. Angesichts dieses
094 Sachverhaltes nimmt es nicht wunder, daß sich alle Versuche als
095 unzureichend erwiesen haben, " primitive " Völker und Kulturen
096 mit Hilfe von Kriterien aus der Technologie (" geringe
097 Naturbeherrschung "), der Anthropogeographie
098 (" Rückzugsvölker "), der Geschichte (" geschichtslose Völker ")
099 und der Psychologie (" Mentalität der Primitiven ")
100 gegen sog. " hochkulturelle " Gesellschaften oder
101 " Zivilisationen " abzugrenzen. Am ehesten wird man unter
102 soziologischen Aspekten geltend machen können, daß die relative
103 zahlenmäßige Kleinheit der meisten " primitiven "
104 Gesellschaften einhergeht mit ihrer verhältnismäßig geringen
105 sozialen Differenzierung im Sinne der Institutionalisierung von
106 einzelnen Funktionen in einer arbeitsteilig gegliederten
107 Organisation. Das oft zur Abgrenzung " primitiver
108 Gesellschaften " herangezogene Kriterium des Fehlens einer
109 Schrift ist selbstverständlich lediglich ein Korrelat der
110 vorwiegend auf persönlichen Kontakten beruhenden sozialen
111 Interaktionen in diesen Gesellschaften, in denen meist gar kein
112 Bedürfnis nach einer über zeitliche und räumliche oder auch
113 soziale Distanz hinweg schriftlich fixierten Kommunikation besteht.
114 Die mündliche Tradition funktioniert so befriedigend, daß z.B.
115 rechtliches, religiöses und dichterisches Gedankengut
116 auch ohne Aufzeichnung verbreitet und weitergegeben werden kann.
117 Auch Bewußtsein und Überlieferung der eigenen Geschichte ist
118 nicht abhängig von ihrer schriftlichen Fixierung, wie " denn auch
119 die " Geschichtlichkeit " (...) unabhängig vom dokumentarischen
120 Niederschlag ein unentrinnbarer menschlicher Wesenszug " ist.
121 In neuerer Zeit hat Robert Redfield (1953) versucht,
122 grundsätzliche Unterscheidungsmerkmale zwischen " primitiven "
123 oder " preliterate " und " zivilisierten " Gesellschaften
124 herauszuarbeiten, indem er bei ersteren deren zahlenmäßige
125 Kleinheit, soziale Homogenität, Selbstgenügsamkeit,
126 Isolation, fehlende literarische Tradition u. a. m.
127 hervorhob. Zugleich wies er selbst darauf hin, daß das
128 Übergewicht der " moral order " gegenüber der " technical order "
129 auch in primitiven Gesellschaften nur relativ größer sei.
130 Vom Gegenstand her läßt sich also eine eigene, von den anderen
131 Geisteswissenschaften prinzipiell unterschiedene Methode der
132 Völkerkunde nicht begründen, zumal da mit dem Aufgehen der sog.
133 " Naturvölker " in die moderne " Weltzivilisation "
134 wahrscheinlich auch die " Völkerkunde " oder " Ethnologie " in
135 einer allgemeinen Anthropologie aufgehen wird. Immerhin geht der
136 Ethnologe von einer allgemein menschlichen Erfahrung aus, die zwar
137 - wie andere derartige Grunderfahrungen - noch keine
138 Wissenschaft begründet, aber für ihn doch zum wesentlichen
139 Problem wird: die Begegnung mit fremden Völkern und Kulturen.
140 Diese Grunderfahrung ist so alt wie die Spaltung der Menschheit
141 in Gruppen verschiedener Sprachen und Kulturen: " Der erste
142 Steinzeitmann, der am Lagerfeuer das Gelächter seiner
143 Stammesgenossen dadurch hervorrief, daß er von den komischen und
144 unglaublichen Sitten der Nachbarhorde erzählte, ist in gewisser
145 Weise der Vater der Ethnographie, das heißt der
146 Völkerbeschreibung ". Gewiß, auch der Historiker, der sich
147 mit vergangenen Epochen unseres eigenen Kulturkreises beschäftigt,
148 versucht, Zeugnisse fremder Menschen als Quellen der
149 geschichtlichen Erkenntnis zum Sprechen zu bringen und zu verstehen.
150 Erst recht stellt sich der Orientalist die Aufgabe, uns mit dem
151 Denken und Tun der Menschen anderer Kulturkreise vertraut zu
152 machen. Der Ethnologe unterscheidet sich nicht grundsätzlich von
153 den Bemühungen dieser verwandten Disziplinen, aber er befaßt
154 sich nicht nur mit Völkern außerhalb unseres eigenen
155 Kulturkreises, sondern auch außerhalb der Tradition der
156 schriftbesitzenden " Hochkulturen ", die im Vorderen Orient und
157 vielleicht später noch einmal im Fernen Osten ihren Ausgang
158 nahmen und möglicherweise in vorkolumbischer Zeit bis nach Mittel
159 amerika und Südamerika ausstrahlten. Selbst wenn diese
160 hochkulturellen Traditionen keinen gemeinsamen Ursprung gehabt
161 haben sollten, weisen sie doch allenthalben gemeinsame
162 Strukturmerkmale, wie z. B. eine hierarchische Gliederung
163 und arbeitsteilige Differenzierung der sozialen Schichten, auf,
164 die wir bei " primitiven ", d. h. in diesem Sinne
165 " ursprünglicheren " Völkern nicht vorfinden. Damit wird die
166 eingangs festgestellte letzte geschichtliche Einheit des
167 Menschengeschlechts nicht bestritten, wohl aber gab es bis zur
168 europäischen Expansion in der Gegenwart zahlreiche
169 Völkerschaften, die mit den hochkulturellen Traditionsströmen
170 der Weltgeschichte nicht oder - wie z. B. in Afrika
171 südlich der Sahara - nur oberflächlich in Berührung kamen.
172 Diese " Randvölker " der Weltgeschichte waren nicht
173 " Naturvölker " in dem Sinne, daß sie in einem ursprünglichen
174 Naturzustande verharrt hätten. Sie haben vielmehr im Laufe eines
175 absolut gleichen Zeitraumes, in dem sich die Geschichte der
176 Hochkulturen ereignete, eigene Traditionen ausgebildet, die uns
177 besonders fremdartig anmuten. Als Ethnologen haben wir die
178 Aufgabe, diese fremden Kulturen außerhalb unserer geschichtlichen
179 Tradition und außerhalb der Traditionen anderer Hochkulturen zu
180 beschreiben und zu interpretieren. Abgesehen davon, daß unsere
181 Auffassung von Wissenschaft keine Terrae incognitae dulde, meint
182 S. F. Nadel (1951), habe es der Ethnologe oder
183 Social Anthropologist mit Gesellschaften zu tun, zu denen er
184 nicht aufgrund der Tradition, in der er aufgewachsen ist, ohne
185 weiteres Zugang hat, sondern die ihm als einem Fremden erst nach
186 mühevoller Beschäftigung mehr oder weniger verständlich werden.
187 Im Erschließen dieser " fremden " Traditionen liegt der
188 eigentliche Wert der ethnologischen Arbeit. Es sind nicht nur
189 romantische Anwandlungen oder die Reize des Exotischen, die den
190 Ethnologen dazu bewegen, sich vorzugsweise mit " unberührten "
191 Kulturen, d. h. mit Kulturen von Völkern, die
192 europäischen Einflüssen wenig oder gar nicht ausgesetzt waren, zu
193 befassen. Der Ethnologe sucht vielmehr die Begegnung mit diesen
194 fremden Völkern und Kulturen, weil er meint, auf diese Weise
195 etwas zur Vollständigkeit unseres Bildes vom Menschen und damit
196 zu unserer Selbsterkenntnis beitragen zu können, was anderen
197 Disziplinen, die ihre Erfahrungen nur oder doch vorwiegend aus dem
198 Stoff der eigenen Lebensformen beisteuern, nicht zugänglich ist.
199 Wenn aber die Begegnung mit fremden Völkern und Kulturen das
200 wichtigste Anliegen des Ethnologen ist, dann darf von ihm erwartet
201 werden, daß er sich in dieser Begegnung vorbehaltlos allem öffnet,
202 was ihm an geschichtlich gewordenen Besonderheiten anderer
203 Völker entgegentritt. Er darf sich nicht mit der vorschnellen
204 Anwendung herkömmlicher Werturteile und Begriffsschemata
205 begnügen und als " primitiv " abtun, was ihm fremd erscheint,
206 sondern er muß sich bemühen, der Eigenart jedes Volkes gerecht
207 zu werden. Bevor der Ethnologe es wagen darf, ein Volk und seine
208 Kultur einer universalgeschichtlichen Entwicklungsstufe, einem
209 Kulturkreis oder einer soziologischen Kategorie zuzuordnen, muß
210 er es erst einmal unter allen Aspekten als dieses eine Volk
211 studiert haben. Mit Recht hat sich Paul Radin (1933)
212 gegen vorschnelles Theoretisieren in der Völkerkunde gewandt und
213 demgegenüber gefordert, auch sogenannte " primitive " Völker
214 ernst zu nehmen, sie nicht einfach als Beispiele seltsam abartiger
215 Lebensformen nach Bedarf zu zitieren, sondern sich in ihre
216 geschichtlich gewordene Eigenart zu vertiefen, sie nach bestem
217 Können zu beschreiben und mit der Vorsicht verstehend zu deuten,
218 die jeder Historiker walten läßt, der weiß, daß jede Epoche
219 " unmittelbar zu Gott ist " (Ranke). Nur im
220 ernsthaften Bemühen um die Kultur jedes einzelnen Volkes
221 erschließt sich dem Ethnologen die ungeheure Vielfalt menschlicher
222 Traditionen, die Mühlmann als das der Spezies Homo
223 sapiens " eigentümlichste Charakteristikum " bezeichnet hat:
224 " Dieses muß zunächst in seinem ganzen Umfange beschrieben
225 und hernach müssen Erklärungen dafür gesucht werden ". Diese
226 Aufgabe hat die Ethnographie (von griech. ethnos,
227 Volk, Völkerschaft, Stamm und graphein,
228 schreiben, aufschreiben, beschreiben), wörtlich also die
229 " Völkerbeschreibung ", die die Grundlage liefert für die
230 vergleichende und theoretische Beschäftigung mit den Völkern und
231 ihren Kulturen, die die Ethnologie (als vergleichende
232 Völkerkunde) und die Anthropologie (als allgemeine Wissenschaft
233 vom Menschen) betreiben. L‚vi-Strauss weist
234 mit Recht darauf hin, daß die Ethnographie, die Ethnologie und
235 die soziale und kulturelle Anthropologie " nicht drei
236 verschiedenartige Disziplinen oder drei verschiedenartige
237 Auffassungsweisen derselben Untersuchung bilden. Es sind
238 tatsächlich drei Etappen oder drei Aspekte ein und derselben
239 Forschung, und die Bevorzugung dieses oder jenes dieser
240 Ausdrücke gibt lediglich das vorherrschende Interesse für einen
241 Typ der Forschung wieder, der aber niemals die beiden anderen
242 ausschließen darf ". Im deutschen, französischen und
243 angelsächsischen Sprachgebrauch wird unter Ethnographie
244 gewöhnlich die Erforschung und Beschreibung fremder Völker und
245 Kulturen verstanden. Die Untersuchung der Sitten und Bräuche
246 des eigenen Volkes oder Kulturkreises, vor allem der aus dem
247 vortechnologischen Zeitalter fortlebenden Traditionen, wie
248 Märchen und Sagen, Hochzeitsbräuche und
249 Jahreszeitbräuche, alte Geräte und Techniken, bleiben dagegen
250 der sog. Volkskunde (oder Folklore) vorbehalten. Mit
251 der stärkeren Zuwendung der europäischen Volkskunde zur modernen
252 Soziologie wird vielfach auch wieder der Begriff " Ethnologie "
253 aufgegriffen. In den Ländern Osteuropas und
254 Südosteuropas, z. T. auch in Skandinavien, wird der
255 Ausdruck Ethnographie vielfach in einem umfassenden Sinne
256 gebraucht für die wissenschaftliche Sammlung und Beschreibung der
257 Bräuche, Sitten und Einrichtungen sowie der mündlichen
258 Überlieferungen sowohl des eigenen Volkes als auch fremder
259 Völker. In den sozialistischen Ländern Mitteleuropas
260 und Südosteuropas wird grundsätzlich kein Unterschied zwischen
261 Ethnographie und Volkskunde oder Völkerkunde gemacht;
262 dort hat die " Entdeckung " des eigenen Volkstums seit Herder
263 freilich auch den Vorrang vor der vergleichend-ethnologischen
264 Beschäftigung mit außereuropäischen Völkern. Im
265 sowjetrussischen Sprachgebrauch wird die Verwendung des Ausdrucks
266 " Ethnologie " ausdrücklich abgelehnt; man spricht dort
267 ausschließlich von " Ethnographie ". Die Bevorzugung dieses
268 Terminus hat sachliche und ideologische Gründe: Da alle im
269 Gebiet der Sowjetunion lebenden Völkerschaften nach der
270 Verfassung gleichberechtigt sind, wird eine Unterscheidung
271 zwischen " volkskundlicher " Beschäftigung mit den europäischen
272 Völkern der Sowjetunion und " ethnologischer " Beschäftigung
273 mit den asiatischen Völkern dieses Vielvölkerstaates als nicht
274 gerechtfertigt angesehen. Die Ethnographie bedient sich bei
275 der Ermittlung ihrer Daten heute vorwiegend der methoden der
276 " stationären Feldforschung ". Durch " teilnehmende Beobachtung "
277 am Leben einer ethnischen Gruppe während eines längeren
278 Zeitraumes, durch Befragungen von Informanten und andere
279 Arbeitstechniken sucht der Ethnograph Daten über die normativen
280 Verhaltensregeln, die faktischen Verhaltensweisen und über die
281 Gedankenwelt der Menschen dieser Gruppe zu erlangen. Außerdem
282 sammelt er Gegenstände, die von dem betreffenden Volke verfertigt
283 wurden (sog. Ethnographica, die in völkerkundlichen Museen
284 konserviert werden) und wertet schriftliche Quellen (ältere
285 Literatur, Archivmaterial) über das betreffende Volk aus. Die
286 Ethnographie umfaßt also die Methoden und Techniken der
287 Datenermittlung, die kritische Prüfung der gesammelten Daten und
288 ihre Klassifizierung und Beschreibung.
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