Quelle Nummer 437
Rubrik 27 : MATHEMATIK Unterrubrik 27.02 : FACHWISSENSCHAFTLICH
HOEHERE MATHEMATIK
GUENTER HELLWIG
HOEHERE MATHEMATIK I
EINE EINFUEHRUNG, I.TEIL
HOCHSCHULTASCHENBUECHER-VERLAG
BIBLIOGRAPHISCHES INSTITUT AG MANNHEIM 1971, S.15-
001 DIE REELLEN ZAHLEN. vorbereitungen.
002 Hauptaufgabe einer Einführung in die Höhere Mathematik ist
003 es, in die mathematische Analysis einzuführen, insbesondere das
004 wichtige Gebiet der Differentialrechnung und
005 Intergralrechnung zu behandeln. Die Grundlage für die
006 mathematische Analysis sind die reellen Zahlen. In der Schule
007 und im täglichen Leben haben wir Erfahrungen gesammelt im Umgang
008 mit diesen reellen Zahlen, und zwar in Gestalt von Dezimalzahlen.
009 Zu Beginn einer solchen Einführing wird man die Hoffnung haben,
010 daß hier der Aufbau von Grund auf, sozusagen aus dem Nichts
011 heraus geschieht. Eine solche Hoffnung muß leider aufgegeben
012 werden, da sich keine mathematische Aussage ohne Benutzung anderer
013 mathematischer Aussagen gewinnen läßt. Deshalb benötigen wir zu
014 Beginn unserer Einführung einige mathematische Aussagen, die wir
015 dem weiteren Aufbau voranstellen können. Solche mathematischen
016 Aussagen, die man einer mathematischen Theorie voranstellt, ohne
017 sie aus anderen mathematischen Aussagen zu gewinnen, nennt man
018 Axiome. Unsere ersten Bemühungen in dieser Einführung müssen
019 sich deshalb darauf konzentrieren, solche mathematischen Axiome
020 ausfindig zu machen. Zu diesem Zwecke beginnen wir damit, unsere
021 Erfahrungen mit den reellen Zahlen zusammenzufassen und
022 aufzuschreiben. Um dabei nicht die Übersicht zu verlieren, ist
023 es unerläßlich, wenige, besonders wichtige Erfahrungen so
024 auszuwählen, daß die weitere große Zahl von Erfahrungen aus
025 diesen wenigen bereits gefolgert werden kann. Nur so werden wir
026 eine Übersicht über das Ganze behalten. Diese wenigen
027 grundsätzlichen Erfahrungen werden wir dabei als Axiome unseren
028 Überlegungen voranstellen. Diese Axiome beziehen sich zunächst
029 auf den Begriff der Gleichheit (in Zeichen =) und auf die vier
030 Grundrechnungsarten, nämlich die Addition, die Subtraktion,
031 die Multiplikation und die Division. Ferner haben wir gelernt,
032 von zwei verschiedenen reellen Zahlen a und b zu sagen, daß
033 entweder a größer als b sei (in Zeichen: a (math.Op.) b) oder daß b
034 größer als a sei. Solche Eigenschaften der reellen Zahlen, die
035 sich auf die Relation (math.Op.) beziehen, werden auch
036 Anordnungseigenschaften genannt. Einige grundsätzliche
037 Erfahrungen werden wir deshalb als Anordnungsaxiome voranstellen.
038 Schließlich ist auch die Eigenschaft der Vollständigkeit der
039 reellen Zahlen in unseren Erfahrungen enthalten. Allerdings muß
040 die Eigenschaft, die zur Einführung des Vollständigkeitsaxioms
041 Anlaß gibt, erst aus unseren Erfahrungen herauspräpariert werden.
042 Die Axiome der Gleichheit. Unsere grundsätzlichen
043 Erfahrungen mit der Gleichheit stellen wir in vier Axiomen
044 zusammen.: Zwei reelle Zahlen a, b stimmen entweder
045 überein, oder sie sind verschieden. Im ersten Falle sagen wir
046 " a sei gleich b " und schreiben a = b, im zweiten Falle sagen wir
047 " a sei von b verschieden " und schreiben a (math.Op.) b.: Für
048 jede reelle Zahl a gilt a = a (Gesetz der Reflexivität).:
049 Es gibt reelle Zahlen a und b mit a (math.Op.) b.: Ist a = b,
050 so darf man in jeder mathematischen Relation überall dort, wo a
051 steht, auch b setzen und überall dort, wo b steht, auch a setzen.
052 Die dabei entstehenden Relationen werden als gleich angesehen
053 (Substitutionsgesetz, universelle Ersetzbarkeit). Diese
054 Eigenschaften der Gleichheit und weitere leichte Folgerungen
055 daraus halten wir für so selbstverständlich, daß ihre Benutzung
056 bei unseren weiteren Erörterungen im allgemeinen nicht erwähnt
057 wird. Oft wird in mehrere Axiome zerlegt, doch ist es wohl
058 unsere obige Formulierung, die am deutlichsten die Erfahrungen mit
059 der Gleichheit beim ersten Eindringen in die Höhere Mathematik
060 wiedergibt. Die Axiome der Addition und der Subtraktion
061 Unsere grundsätzlichen Erfahrungen stellen wir in vier
062 Axiomen zusammen.: Zu je zwei reellen Zahlen a und b gibt
063 es stets genau eine reelle Zahl a (math.Op.) b, die die Summe von a und b
064 genannt wird. Es bestehen dafür die Regeln:: (Formel)
065 (kommutatives Gesetz).: (Formel) (assoziatives Gesetz).:
066 Zu je zwei reellen Zahlen a und b gibt es stets genau eine reelle
067 Zahl x, so daß (Formel) gilt. x heißt die Differenz von a und b,
068 und man schreibt (Formel) (Gesetz der Subtraktion). Alle weiteren
069 Erfahrungen lassen sich bereits aus diesen Axiomen gewinnen. Wir
070 geben einige Beispiele dafür an. Folgerungen aus den
071 Axiomen.: Aus (Formel) folgt (Formel) für jede reelle Zahl c
072 (Gesetz des Erweiterns). Beiweis: Wegen (Formel) darf man
073 mit in (Formel) das a durch b ersetzen und erhält dann (Formel).:
074 Aus (Formel) folgt (Formel) (Gesetz des Kürzens). Beiweis:
075 Die reelle Zahl (Formel) bezeichnen wir mit s. Es ist dann also (Formel)
076 und auch (Formel). Mit bekommt man (Formel) und (Formel). Nach gibt es
077 aber zu den Zahlen c und s genau eine reelle Zahl x, die (Formel)
078 erfüllt. Deshalb muß (Formel) bestehen.: Es gibt genau eine
079 reelle Zahl, die mit 0 (Null) bezeichnet wird, so daß (Formel) und
080 (Formel) für jede reelle Zahl a gilt. Beiweis: Nach
081 gibt es zu der reellen Zahl a genau eine reelle Zahl x mit der (Formel)
082 gilt. Sie ist mit durch (Formel) zu bezeichnen. Entsprechend gibt
083 es nach zur reellen Zahl b genau eine reelle Zahl (Formel) mit der
084 (Formel) besteht. Sie ist mit durch (Formel) zu bezeichnen. Wir wollen
085 zeigen, daß stets (Formel) gilt. Es ist jedenfalls (Formel). Deshalb ist
086 (Formel) gezeigt, woraus mit aber (Formel) folgt. Daher hängt die Zahl
087 (Formel) nicht von a ab. Sie wurde mit 0 bezeichnet, und es besteht
088 dann (Formel) und mit auch (Formel) für jede reelle Zahl a.
089 Definition 1: Mit (Formel) oder auch mit (Formel) bezeichnen wir die
090 nach eindeutig fesegelegte Zahl x, für die (Formel) gilt und nennen
091 sie " minus a ". Unsere Definition legt somit bei Beachtung von
092 nur eine andere Schreibweise für (Formel) fest.: Für jede
093 reelle Zahl a gilt (Formel). Beweis: Nach Definition 1 ist
094 (Formel), mit gilt also (Formel). Nach gibt es zu den Zahlen (Formel)
095 und 0 genau eine Zahl x mit der Eigenschaft (Formel). Wegen muß
096 (Formel) gelten. Andererseits muß x nach Definition 1 durch (Formel)
097 bezeichnet werden. Also ist (Formel) gezeigt.: (Formel). Beweis:
098 Es ist (Formel). Zu den Zahlen a und b gibt es nach genau
099 eine Zahl x, die mit (Formel) zu bezeichnen ist, so daß (Formel) gilt.
100 Mit muß deshalb (Formel) bestehen. Die Axiome der
101 Multiplikation und der Division.Unsere grundsätzlichen
102 Erfahrungen stellen wir in fünf Axiomen zusammen.: Zu je
103 zwei reellen Zahlen a und b gibt es stets genau eine reelle Zahl ab,
104 die das Produkt von a und b benannt wird. Gelegentlich schreibt
105 man auch a (math.Op.) b. Es bestehen dafür die Regeln:: (Formel)
106 (kommutatives Gesetz).: (Formel) (assoziatives Gesetz).:
107 Zu je zwei reellen Zahlen a und b mit (Formel) gibt es stets genau eine
108 reelle Zahl y, so daß (Formel) gilt. y heißt der Quotient von a und
109 b, und man schreibt (Formel) (Gesetz der Division). Gelegentlich
110 schreibt man auch (Formel) oder (Formel).: (Formel) (distributives Gesetz).
111 Alle weiteren Erfahrungen lassen sich bereits aus diesen und den
112 vorangegangenen Axiomen gewinnen. Wir geben einige Beispiele
113 dafür an. Fehlen die Beweise, so mag der Leser versuchen, sie
114 herzustellen. Folgerungen aus den Axiomen.: Aus
115 (Formel) folgt (Formel) für jede reelle Zahl c (Gesetz des Erweiterns).
116 : Aus (Formel) und (Formel) folgt (Formel) (Gesetz des Kürzens).:
117 Für jede reelle Zahl c gilt (Formel). Beweis: Nach
118 gilt (Formel). Mit ist (Formel), so daß (Formel) folgt. Wieder mit ist
119 (Formel), so daß wir schließlich (Formel) gezeigt haben. Das Gesetz des
120 Kürzens liefert nun sofort (Formel) und auch (Formel).: Es
121 gibt genau eine reelle Zahl, die mit 1 (Eins) bezeichnet wird,
122 so daß (Formel) und (Formel) für jede reelle Zahl a gilt. Beweis:
123 Nach gibt es zu der reellen Zahl (Formel) genau eine Zahl y mit
124 der (Formel) gilt. Sie ist nach mit (Formel) zu bezeichnen.
125 Entsprechend gibt es zur reellen Zahl (Formel) genau eine Zahl (Formel) mit
126 der (Formel) (sie ist mit (Formel) zu bezeichnen) und zu a und b genau eine
127 reelle Zahl z mit der (Formel) gilt.Wir wollen zeigen, daß stets (Formel)
128 gilt. Es ist (Formel). Deshalb ist (Formel) und mit (Formel) gezeigt. Das
129 Gesetz des Kürzens liefert sofort (Formel). Daher hängt die
130 Zahl (Formel) nicht von a ab. Sie wurde mit 1 bezeichnet, und es
131 besteht dann (Formel) und mit (Formel) für jedes (Formel). Mit gelten
132 diese Beziehungen auch für (Formel).: (Formel). Beweis:
133 Nach gilt entweder (Formel) oder (Formel). Wir machen die Annahme:
134 (Formel). Diese Annahme muß zu einem Widerspruch geführt werden.
135 Es sei a eine reelle Zahl mit (Formel) (nach gibt es solche Zahlen,
136 da nicht sämtliche reele Zahlen gleich Null sein können).
137 Aus folgt dann mit der Annahme (Formel) (Formel). Mit gilt aber (Formel),
138 so daß (Formel) sein muß. Widerspruch! Also ist (Formel) gezeigt.:
139 Ist (Formel), so ist auch (Formel). nr: Für (Formel) gilt (Formel).: *ya
140 *vk Aus (Formel) folgt (Formel) oder (Formel). *yb) Aus (Formel) oder (Formel) folgt (Formel).
141 : *ya) (Formel), *yb) (Formel), *yg) (Formel). Beweis:
142 *ya). Nach gibt es zu den reellen Zahlen a b und 0 genau
143 eine reelle Zahl x mit (Formel). Nach Definition 1 aus ist x mit
144 (Formel) zu bezeichnen. Andererseits ist (Formel). Ein Vergleich von
145 und liefert (Formel) und andererseits (Formel), so daß (Formel) gezeigt ist.
146 Der Fall *yb) läßt sich mit auf den Fall *ya)
147 zurückführen. *yg) Es ist (Formel).: (Formel). Die
148 Anordnungsaxiome. Wenn für zwei reelle Zahlen (Formel) gilt,
149 so wissen wir aus Erfahrung, daß wir dann feststellen können, ob
150 a größer als b ist (in Zeichen: (Formel)) oder ob b größer als a
151 ist. Unsere grundsätzlichen Erfahrungen über solche
152 Anordnungseigenschaften der reellen Zahlen stellen wir in vier
153 Anordnungsaxiomen (auch Ordnungsaxiome genannt) zusammen.:
154 Es gibt eine Relation " (math.Op.) " (gelesen: größer als) derart,
155 daß für irgend zwei reelle Zahlen a, b genau eine der Aussagen
156 (Formel) gilt und die weiteren Regeln bestehen:: Aus (Formel) folgt
157 (Formel) (Transitivgesetz),: Aus (Formel) folgt (Formel) für jede reelle
158 Zahl c (Monotoniegesetz der Addition),: Aus (Formel) folgt
159 (Formel) (Monotoniegesetz der Multiplikation). In unseren
160 Erfahrungen mit den reellen Zahlen ist auch die Sprechweise
161 " kleiner als " (in Zeichen: " (math.Op.) ") enthalten. Außerdem
162 nennen wir solche Zahlen a positiv, für die (Formel) gilt, und wir
163 nennen solche Zahlen b negativ, für die (Formel) gilt. Deshalb
164 treffen wir noch die folgenden Definitionen. Definition 1:
165 Die Aussage (Formel) (gelesen: a ist kleiner als b) ist mit der
166 Aussage (Formel) gleichwertig. Definition 2: Ist (Formel), so
167 heißt a positiv. Ist (Formel), so heißt b negativ. Mit Definition
168 2 besagt, daß das Produkt aus zwei positiven reellen Zahlen
169 wieder eine positive reelle Zahl ist. Aussagen der Form (Formel) und
170 (Formel) werden auch Ungleichungen genannt. Folgerungen aus den
171 Axiomen.: Aus (Formel) und (Formel) folgt (Formel) (in Ungleichungen
172 dürfen Gleichungen eingesetzt werden). Beweis durch
173 Verwendung von.: Aus (Formel) folgt (Formel) (Gesetz des
174 Kürzens). Beweis: Wir machen die Annahme, aus
175 (Formel) folge (Formel). Dann liefert aus (Formel) sofort (Formel). Dies ist ein
176 Widerspruch zur Voraussetzung (Formel) vermöge des Axioms.
177 Unsere Annahme ist daher falsch. Wir machen die Annahme,
178 aus (Formel) folge (Formel). Dann liefert sofort (Formel), welches nach
179 Definition 1 mit (Formel) gleichwertig ist. Dies ist ein Widerspruch
180 zur Voraussetzung (Formel). Unsere Annahme ist daher falsch. Aus
181 ergibt sich nun, daß aus (Formel) folgen muß (Formel).: Aus (Formel) und
182 (Formel) folgt (Formel) (Gleichsinnige Ungleichungen dürfen addiert werden).
183 : *ya) Aus (Formel) folgt (Formel). *yb) Aus (Formel) folgt (Formel).
184 : ya) Aus (Formel) folgt (Formel). *yb) Aus (Formel) folgt (Formel). *yg
185 *vk Aus (Formel) folgt (Formel). (Das Produkt einer positiven mit einer
186 negativen reellen Zahl ist eine negative reelle Zahl; das
187 Produkt zweier negativer reeller Zahlen ist eine positive reelle
188 Zahl.) Beweis: *ya) Aus (Formel) folgt mit (Formel).
189 Deshalb ist nach (Formel). Da aber nach (Formel) gilt, ist (Formel)
190 gezeigt. Aus folgt dann weiter (Formel). Nun ist mit (Formel).
191 Deshalb ist (Formel) gezeigt. Der Fall *yb) läßt sich mit auf
192 den Fall *ya) zurückführen. *yg) Nach ist (Formel) und (Formel).
193 Deshalb liefert sofort (Formel). Nach ist aber (Formel), so daß
194 (Formel) gezeigt ist.: Ist (Formel) und setzt man (Formel), so gilt (Formel).
195 Beweis: Ist (Formel), so folgt die Behauptung aus, ist
196 jedoch (Formel), so folgt die Behauptung aus.: Aus (Formel) folgt
197 (Formel). Beweis: Aus (Formel) folgt mit (Formel). Nun ist nach
198 Definition 1 aus (Formel). Deshalb ist wegen: (Formel)
199 schließlich (Formel) gezeigt.: *ya) Aus (Formel) und (Formel) folgt (Formel).
200 *yb) Aus (Formel) und (Formel) folgt (Formel). (Eine Ungleichung bleibt
201 erhalten (aus " (math.Op.) " wird " (math.Op.) "), wenn man sie mit einer
202 positiven reellen Zahl multipliziert; eine Ungleichung kehrt sich
203 um (aus " (math.Op.) " wird " (math.Op.) "), wenn man sie mit einer
204 negativen reellen Zahl multipliziert.)
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