Quelle Nummer 423
Rubrik 03 : PHILOSOPHIE Unterrubrik 03.00 : PHILOSOPHIE
ETHIK
ARTHUR FRIDOLIN UTZ
ETHIK
F.H. KERLE VERLAG, HEIDELBERG UND VERLAG E. NAU-
WELAERTS LOEWEN, 1970, S. 137-
001 Die Wurzel der sittlichen Normen: das
002 Verantwortungsbewußtsein. Wie dargestellt wurde, beginnt das
003 Verantwortungsbewußtsein mit einem absoluten, auf das absolute
004 Sein orientierten Imperativ. Eine Grundnorm liegt also von
005 Natur vor, und zwar eine echte Norm, nämlich ein wirksamer,
006 inhaltlich bestimmter Befehl. Wirksam ist der Befehl, weil er
007 nie ausgelöscht werden kann, auch dann nicht, wenn seine materiale
008 Ausrichtung in der konkreten Gestaltung nicht eingehalten wird.
009 Er ist ein Apriori unserer praktischen Vernunft. Mit diesem
010 Apriori verhält sich die naturhafte Willensanlage konform, da das
011 " Gute " des apriorischen Imperativs nichts anderes ist als das
012 letzte, adäquate Gut des Willens. An sich ist dieses absolute
013 Gut nur in der metaphysischen Ordnung, in der Transzendenz eines
014 göttlichen Wesens, zu finden. Doch ist dieses, wie gesagt wurde,
015 nicht unmittelbares und direktes, sondern nur impliziertes Objekt
016 der Willenspotenz. Es ist eingeschlossen in dem allgemeinen
017 " höchsten, unendlichen Gut und letzten Ziel ". Da der Wille
018 aber in der einzelnen Handlung immer nur ein konkretes und darum
019 endliches Gut erstreben kann, obliegt es der Vernunft,
020 Einzelgüter zu bestimmen, die zum vorgegebenen Ziele führen,
021 genauer gesagt, die wenigstens zu einem Teil den Wert des
022 Absoluten darstellen. Wichtig ist hierbei, daß es sich nicht
023 lediglich um eine Mittel-Zweck-Relation handelt, die der
024 sittlich Strebende in der einzelnen sittlichen Entscheidung
025 herstellt. Der Freund ist dem Freund nicht nur deswegen treu,
026 weil er damit dem unendlichen Gut näherkommt, sondern weil die
027 Treue in sich einen Wert darstellt, der im absolut Guten
028 begriffen ist. Wir beherrschen unsere Leidenschaften, weil
029 Ausbrüche unbeherrschter Leidenschaften uns als in sich
030 verwerflich, d.h. mit dem Guten, auf das unser Wille
031 naturhaft ausgerichtet ist, unvereinbar erscheinen. Woran erkennen
032 wir nun, was diesem absolut Guten entspricht? In der
033 Beantwortung dieser Frage entfaltet der Ethiker erneut seine
034 Einstellung zum Problem " Sein und Sollen ". Die
035 Moralprinzipien. Da das absolut Gute von der Vernunft dem
036 Willen in der Gestalt des Universalen vorgestellt wird, geht der
037 Weg zum einzelnen Objekt über die Konkretisierung. Das
038 Universale wird allerdings nicht ohne Erfahrung gewonnen. Und da
039 ein Großteil der allgemeinen sittlichen Forderungen nur in
040 verschwommener, nämlich analoger Erkenntnis erfaßt werden kann,
041 hat der sittliche Mensch in seiner Erfahrung nie ausgelernt.
042 Dennoch muß er seine konkrete Entscheidung mit dem Rückblick auf
043 das Allgemeine rechtfertigen. Die Frage lautet also: Wie
044 erkennt die praktische Vernunft, daß ein bestimmtes einzelnes
045 Objekt eine seinsgerechte Konkretisierung des allgemein erfaßten
046 Guten ist? Wenn man die abstrahierende Tätigkeit der Vernunft
047 annimmt, dann wird man das seinsgerechte Gute (denn dieses ist
048 naturgemäß das Objekt der praktischen Vernunft wie auch des
049 Willens) zunächst im Wesen des Menschen erkennen müssen.
050 Alles, was wesentlich in der Natur des Menschen enthalten ist,
051 normiert jede weitere Konkretisierung. Wir stimmen wohl alle in
052 der Überzeugung überein, daß der Mensch sich nicht wie ein
053 Tier, sondern wie ein Mensch verhalten müsse. Welche
054 Erkenntnis nun als wesentlich zu bezeichnen ist und welche als
055 unwesentlich, ist oft schwer zu unterscheiden. Sicherlich besteht
056 Einigkeit über einige Grundprinzipien, wie z.B. über
057 das soziale Wesen des Menschen und die daraus sich notwendig
058 ergebenden Folgerungen: Einsatz für die Gerechtigkeit,
059 gegenseitiges Verstehen, Geneigtheit zur Kooperation,
060 Mitteilsamkeit, Liebe zur Wahrhaftigkeit usw. Auch im
061 individuellen Bereich erkennen wir allgemein in gleicher Weise
062 Grundsätze des menschlichen Verhaltens: Streben nach Wahrheit,
063 Entfaltung der Persönlichkeit, Harmonie der Strebekräfte,
064 als Grundlage dieser Forderungen: Erhaltung der eigenen
065 Existenz, d.h. Respekt vor dem eigenen Leben. Diese
066 Grundsätze sind allerdings immer noch sehr allgemein. Es hängt
067 dann noch von der jeweiligen Situation ab, wie wir sie
068 konkretisieren. So dürfte der Grundsatz gegenseitiger
069 Kooperation und Hilfeleistung in dem Fall, da der Mitmensch
070 unsere Solidarität nur zum Unfrieden und kriegerischen Angriff
071 ausnutzen würde, gegenüber dem Prinzip der Existenzsicherung
072 zurücktreten. Die allgemeine Natur der " wesentlich "
073 menschlichen Verhaltensnormen ist also analog, nicht univok
074 aufzufassen. Gibt es aber keine univoken, d.h. immer im
075 gleichen Sinne geltenden Verhaltensnormen, die, weil aus dem
076 Wesen der Dinge abgelesen, unveränderlich sind? Man könnte z.b.
077 der Auffassung sein, daß die Ehe in ihrem Wesen eine
078 unwiderrufliche gegenseitige Schenkung zweier
079 geschlechtsverschiedener Personen ist, so daß jede einzelne Ehe
080 (wenn sie wirklich mit Verstand und Willen geschlossen wurde)
081 unwiderruflich und unauflöslich ist ohne Rücksicht auf die
082 konkrete Situation, in welcher sich ein Ehepaar befinden mag.
083 Tatsächlich ist im Laufe der Menschheitsgeschichte diese
084 Eheauffassung nicht die allgemeine gewesen. Aber das dürfte an
085 sich noch kein Grund dagegen sein, daß die Ehe ein
086 unwiderruflicher Liebeskontrakt sein sollte, soweit man ihr Wesen
087 in Betracht zieht. Doch soll hier nicht über die Wesensgestalt
088 der Ehe diskutiert werden. Das Beispiel ist nur besonders
089 geeignet, um eine univoke Wesenserkenntnis darzustellen. Die
090 Unterscheidung zwischen univoker und analoger Erkenntnis ist für
091 den Normenaufbau grundlegend. Äußerste Vorsicht ist angezeigt,
092 wenn man eine Wesenserkenntnis im Sinne einer univoken Abstraktion
093 verteidigen will. Wer die Geschichte des Naturrechts studiert,
094 wird als Grund der Zickzackbewegungen in der Aufstellung von
095 Moralprinzipien von einem Extrem zum andern, vom Sklavenrecht zum
096 Freiheitsprinzip, die voreilige Etikettierung eines an sich
097 situationsbedingten und darum analogen Prinzips als eindeutiges und
098 darum unwandelbares Moralprinzip finden. Es macht vielleicht den
099 Eindruck, als ob die Ermittlung der Moralprinzipien
100 ausschließlich die Angelegenheit der theoretischen Vernunft wäre.
101 Doch ist, wie früher dargestellt, mit der theoretischen
102 Erkenntnis zugleich eine Wertung verbunden, sobald es sich um ein
103 Objekt handelt, das Gegenstand des Willens sein kann. Diese
104 Wertung erfolgt spontan entsprechend der sachgerechten Erkenntnis.
105 Selbst wenn wir konträr handeln, bleibt diese uns verpflichtende
106 Wertung in Funktion. Sonst könnten wir uns nach der Tat keinen
107 sittlichen Vorwurf machen, wir könnten höchstens einen Irrtum
108 bedauern. Diese Erfahrung ist ein Hinweis darauf, daß die
109 praktische Vernunft sich konform zur theoretischen verhält, was
110 nicht verwunderlich sein dürfte, da die theoretische und die
111 praktische Vernunft keine verschiedenen Potenzen, sondern nur zwei
112 verschiedene Verhaltensweisen (habitus) ein und derselben
113 Vernunft sind. Die naturhafte Konformität von theoretischer und
114 praktischer Vernunft hört allerdings dort auf, wo wir uns aus den
115 Prinzipien in die konkrete Ordnung hineinbegeben. Hier unterliegt
116 die praktische Vernunft den durch Akte der Strebevermögen
117 hervorgerufenen Verhaltensweisen. Thomas von Aquin hat
118 sich im Kommentar zur Nikomachischen Ethik mit dem Normenprozeß,
119 angefangen bei der Urnorm über die Moralprinzipien bis zum
120 konkreten Vernunftbefehl, eingehend beschäftigt. Es ging ihm
121 hierbei entscheidend um die Frage, an welchem Punkt die praktische
122 Vernunft ihre naturhafte Kraft verliert, weil sie sich einer
123 anderen Kraft, nämlich des Willens bedienen muß, um den Weg
124 zum Objekt des Handelns zu finden. Er kommt hierbei zum Resultat,
125 daß die Vergewaltigung der Vernunft dort nicht möglich ist,
126 die Vernunft also alleinzuständig ist, wo noch
127 Allgemeinerkenntnis vorliegt (vom Irrtum natürlich abgesehen).
128 Dagegen sei die Vernunft nicht mehr alleinzuständig in der
129 Erkenntnis und Wertung eines konkreten, also einmaligen Objektes.
130 Wenn hier von der Alleinzuständigkeit der praktischen Vernunft
131 hinsichtlich der allgemeinen Moralgrundsätze die Rede war, so
132 dürfte nicht der Eindrzck erweckt werden, als ob die praktische
133 Vernunft als wertender Teil der menschlichen Vernunft vom Willen
134 isoliert wäre. Wäre dies der Fall, dann wäre die
135 Werterfassung der praktischen Vernunft etwas rein Kognitives,
136 würde also mit der Seinserkenntnis identisch sein. Wie bereits
137 früher dargestellt, ist die Werterkenntnis in ihrer Wurzel also
138 bereits im ersten allgemeinen Imperativ eine auf den Willen
139 bezogene und von diesem als zur Natur des Menschen gehörenden
140 geistigen Potenz mitbestimmte Tätigkeit. Dieser Wille aber ist
141 noch nicht der aktuierte Wille. In dem Augenblick, wo die
142 praktische Vernunft ein konkretes Objekt bestimmen soll, hängt
143 sie vom aktuierten Willen ab. Die Liebe, die Sympathie, die
144 Antipathie, kurz das vom Menschen und im Menschen hervorgebrachte
145 Wertverhalten des Willens (das ganz entfaltete, konkrete
146 Wertempfinden), gibt den Ausschlag für den letzten Befehl der
147 praktischen Vernunft. Norm und Ideal. Norm und Ideal
148 sind grundverschieden. Die Norm bietet zunächst nur eine
149 allgemeine Orientierung, von der aus noch ein weiter logischer Weg
150 bis zur konkreten Bestimmung des zu verwirklichenden Objekts führt.
151 Diese letzte Bestimmung hat naturgemäß auch die Bewandtnis der
152 Norm für die Handlung. Sie ist aber unvergleichbar, weil ganz
153 auf den Moment bezogen. Dagegen ist das Ideal eine konkrete
154 Zielvorstellung, an der jedes einzelne Objekt gemessen wird. Wer
155 von einer Idealvorstellung ausgeht, kann, wenn er diese zur Norm
156 erklärt, nur immer ein Objekt gutheißen. Es fehlt ihm jedes
157 Verständnis für die pluralistische Möglichkeit der
158 Wertentscheidung. Er ist Ideologe. Die Gefahr aus der
159 allgemeinen Norm, die wir naturgemäß nur sehr verschwommen
160 erkennen, ein Ideal zu formen, liegt nahe, da wir uns damit die
161 Bemühungen um die Findung der konkreten Handlungsnorm erleichtern
162 können. Das Ideal bietet sich uns an wie ein Wertschema, das
163 einen mühelosen Vergleich zwischen der konkreten Situation und dem
164 zu erstrebenden Ziel ermöglicht. Die Vorstellung, daß die
165 konkrete Norm sich einzig wie ein Mittel zur universalen Norm
166 verhielte, ist typisch für das ideale Normendenken. Auf diese
167 Weise läßt sich leicht die Problematik der Werte, die mit den
168 Zielen gleichgesetzt werden, aus der konkreten Sachanalyse
169 ausklammern. Der Zielkonflikt im sozialen Leben wird der
170 Entscheidung der Politiker überlassen. Der
171 Sozialwissenschaftler befaßt sich nur mit der Mittelordnung und
172 dispensiert sich von jeder Wertüberlegung. Solange sich die
173 Sozialwissenschaftler nur mit den verschiedenen sachlichen
174 Möglichkeiten, die zur Verwirklichung eines bestimmten aus jedem
175 Zielkonflikt gelösten Zieles offen stehen, beschäftigt, mag
176 seine Wissenschaft praktischen Wert haben. Nun ist aber das Ziel
177 eben ethisch nicht so einfach zu umschreiben, weil über der
178 Zielwahl die Norm steht. Diese läßt eine klar umschriebene
179 Beinhaltung nicht zu. Der konkrete Inhalt wird nur in sachlicher
180 und zugleich wertender Vernunfttätigkeit gewonnen. Der
181 Sozialwissenschaftler darf daher, wenn er praktische Lösungen
182 für das politische Leben anbieten will, die Wertordnung und damit
183 auch den Zielkonflikt nicht ignorieren. Er muß sich vom Ethiker
184 sagen lassen, daß die Ethik nur die Methode der Wertschöpfung,
185 nicht aber schon konkret anzustrebende Ziele bieten kann, denn die
186 ethischen Normen sind keine Ideale. Mit dem Gesagten ist die
187 finalistische Ethik keineswegs entkräftet. Der Mensch muß ein
188 Endziel anstreben. Von diesem Endziel aus ergibt sich aber in der
189 Einzelsituation die Notwendigkeit der Wahl von Nahzielen und
190 damit die Tatsache von vielfältigen Zweck-Mittel-
191 Relationen. Diese vielfältig ineinander verwobene Wertwelt kann
192 nur von einer Norm, nicht von einer Idealvorstellung aus beurteilt
193 werden. Die letztgültige, konkrete Norm. Für das
194 abstraktive Erkenntnisvermögen ist zur Erkenntnis eines konkreten
195 Objekts die sinnliche Erkenntnis notwendig. In gleicher Weise
196 ist für die Abwägung eines konkreten Handlungsobjekts die
197 einfühlende Wertung der sinnlichen Strebekräfte, der
198 Leidenschaften, erforderlich. Unter ihrem Druck entsteht die
199 gesamtmenschliche, also auch willentliche Sympathie oder
200 Antipathie zum konkreten Objekt. Die sittliche Bewandtnis dieser
201 letztgültigen Dispositionen ergibt sich aus dem Verhältnis von
202 Freiheit und Leidenschaften. Die praktische Vernunft kann ihren
203 letzten, für die Handlung ausschlaggebenden Imperativ nur im
204 Sinne dieser vorentscheidenden Instanzen geben. Dieser Imperativ
205 ist Norm des Handelns, aber eine Norm, deren Elemente in
206 sittlicher Verantwortung vom einzelnen Menschen " vorfabriziert "
207 werden. Sofern dieser letztgültige Imperativ im Sinne der
208 übergeordneten Normen geformt wurde, kann man ihm (mit
209 Aristoteles und Thomas von Aquin) den Namen
210 Klugheitsimperativ geben. Naturgemäß gehen diesem Imperativ
211 konkrete Werturteile voraus. Der letzte Imperativ ist echte Norm:
212 wirksame Direktive der Handlung. Ein Ausweichen gibt es nicht
213 mehr, da der gesamte Bewegungsapparat bereits in Funktion gesetzt
214 ist, unter dessen Kraft, wie gesagt, auch die praktische
215 Vernunft zur Tätigkeit mitgezogen wird. Für die sittliche
216 Verantwortung ist demnach dieser letzte praktische Imperativ
217 entscheidend, und zwar in zweifacher Hinsicht: daß der
218 Mensch überhaupt diesen Imperativ wagt, daß er ihn sittlich
219 vorbereitet. Daß er ihn wagt: Der Mensch muß zur
220 Handlung kommen, und zwar zur verantworteten Handlung. Er darf
221 sich als sittliches Wesen nicht einfach nach Art von Reflexen
222 bewegen. Auch kann ihm niemand diesen Imperativ abnehmen, auch
223 der beste und treueste Berater nicht. Das Einholen von
224 Ratschlägen gehört zwar zum klugen Vorgehen. Klug aber im echt
225 sittlich guten Sinne ist der Mensch erst, wenn er entsprechend den
226 übergeordneten Normen die letzte, nur von ihm zu erstellende Norm,
227 nämlich den letztgültigen Imperativ ausspricht. Es ist
228 übrigens erstaunlich, mit wieviel Sorgfalt Thomas von Aquin
229 um die Herausarbeitung dieses Imperativs bemüht war.
230 Daß er ihn sittlich vorbereitet: Hierauf ist wohl das
231 Hauptgewicht zu legen. Je mehr wir uns in der letzten
232 Lebensentscheidung festigen, um so sicherer werden wir im konkreten
233 Fall das wahre Gute treffen. Zur allseitigen Abstützung der
234 Zielorientierung benötigen wir eine ausgeglichene Harmonie aller
235 sittlich formierten Kräfte. Hierzu gehört vor allem die Ordnung
236 in den Leidenschaften. Nicht zu übersehen ist die Bedeutung der
237 sittlichen Erfahrung, die die praktische Vernunft zu sammeln hat.
238 Resultat von Erfahrung und andauernder Übung sind die erworbenen
239 sittlichen Tüchtigkeiten oder Tugenden, wovon im folgenden
240 Kapitel die Rede sein wird.
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