Quelle Nummer 376
Rubrik 08 : GESELLSCHAFT Unterrubrik 08.22 : SOZIOLOGIE
MODE
RENE KOENIG
MACHT UND REIZE DER MODE
VERSTAENDNISVOLLE BETRACHTUNGEN EINES SOZIOLOGEN
ECON VERLAG DUESSELDORF WIEN 1971, S.207-
001 Alte Techniken produzieren neue Moden. Überhaupt muß
002 man sich darüber klar sein, daß die Mode in ihrem Drange nach
003 Selbstentfaltung nicht nur den ganzen Menschen ergreift, sondern
004 auch alle verfügbaren technischen Mittel, wenn sie nur besonders
005 ästhetische Effekte erlauben. Dazu kommt noch, wie eben
006 angedeutet, die Chance der Massenfertigung, so daß im Grunde
007 nicht nur die Auszeichnungsfunktion einer Farbe, eines Musters,
008 eines Dessins, einer Textur, sondern gleichzeitig die sozialen
009 Ausbreitungsmöglichkeiten einer Mode davon beeinflußt werden.
010 Seit die Menschheit besteht, hat sie dementsprechend viel mehr
011 Aufwand mit der Erfindung von Verfahrensweisen, Techniken und
012 Maschinen zur Herstellung und Bearbeitung von Dingen, die den
013 Körper schmücken, als zur Stillung unmittelbarer Bedürfnisse
014 getrieben. Wenn der Mensch allerdings Fasern und Haare benutzte,
015 um Garn zu spinnen, und daraus weiter Stoffe und Flechtwerke
016 herstellte, so war zunächst der wirtschaftliche Aufwand dabei
017 relativ gering, wie auch die ursprünglichen Menschengruppen klein
018 waren. Das ändert sich erst mit den alten Hochkulturen, die
019 größere Menschenmengen als jemals vorher vereinigten, und hat
020 sich seither immer mehr akzentuiert, bis in die Zeit der
021 Massendemokratien und der Massenfertigung hinein. Mit der
022 Entwicklung der Seidenindustrie kam es sogar zu einem
023 ersten großen Wirtschaftskampf zwischen China und dem Rest der
024 Welt. Seit dem 3.Jahrhundert v. Chr. etwa hatte China
025 eine ausgesprochene Monopolstellung für Seide und produzierte
026 beachtliche Mengen von Seidengeweben für den Handel, die auf den
027 " Seidenstraßen " von Osten nach Westen reisten. Später
028 gelangt die Kenntnis der Seidenraupenzucht nach Byzanz, dann nach
029 Spanien und Italien (zwischen 1000 und 1200). Seit dem
030 Mittelalter finden wir wachsende Produktionsziffern für
031 Seidengewebe auch in Europa, die bis heute immer neue modische
032 Verwandlungen erfahren haben; sie konnten auch durch die
033 Kunstfasern nicht verdrängt werden, die seit dem Ende des 19.
034 Jahrhunderts ihren unvergleichlichen Siegeszug antraten und
035 bald eigene modische Neuerungen anbahnten, unter ihnen die
036 bedeutendste von allen: den Damenstrumpf. Zum Spinnen gesellt
037 sich bald das Weben, wobei auch hier zunächst die
038 Einzelfertigung im Haushalt überwiegt. Es ist aber erstaunlich
039 zu sehen, wie früh schon die maschinelle Fertigung einsetzt. Der
040 Webstuhl in verschiedenen Formen ist uralt, er findet sich schon
041 im alten Ägypten um 2000 v. Chr.. Natürlich wird er
042 ursprünglich von Hand betrieben. Aber mit Beginn des 18.
043 Jahrhunderts entsteht der mechanische Webstuhl, dessen sich bald
044 die Dampfmaschine bemächtigt. Es ist interessant dabei, daß
045 sich ausgerechnet hier zuerst die automatische Steuerungstechnik
046 einer Maschine anbahnt; so lief seit etwa 1816 der mechanische
047 Webstuhl von Jacquard mit einer Art von Lochkartensteuerung,
048 welche die Automation vorbereitete. Dies geschah zudem in einer
049 Zeit, da die Gewebearten schon außerordentlich differenziert
050 waren, so daß sehr bald die höchsten Ansprüche an die neuen
051 Maschinen gestellt wurden. Aber wir wollen hier nicht wiederholen,
052 was man in jeder Textilgeschichte besser nachlesen kann, sondern
053 einzig zeigen, wie aus alten Techniken neue Moden entstehen, wie
054 durch die Wandlung des modernen Lebensstils bereits altbekannte
055 Techniken auf völlig neuartige Verwendungsformen umgepolt werden
056 und damit einen beachtlichen Funktionswandel erleben. So finden
057 wir neben der Webetechnik seit dem 13.Jahrhundert die
058 Strickerei, die natürlich ebenfalls zunächst von Hand
059 besorgt wurde. Damit entstand aber ein Gewebe, das - wie
060 gezeigt werden soll - in unserer Gegenwartsmode eine neue und
061 weltweite Verbreitung erleben sollte, die aus ihm für gewisse
062 Lebensbereiche gewissermaßen das Schlüsselprodukt für zahllose
063 Kreationen macht. Die technischen Mittel der alten Weberei
064 erfordern ein straffes Anziehen der Fäden und bedingen dadurch die
065 Bildung von Stoffen mit geringer Elastizität. Da nun beim
066 Stricken und Wirken die Fadenverbindung grundsätzlich anders ist
067 als beim Weben, sind die daraus entstehenden Stoffe
068 außerordentlich dehnbar und dazu porös. Sie passen sich den
069 Körperformen besonders gut an und erleichtern auch das Atmen der
070 Haut, das den modernen Hygienikern so wichtig erschien, daß das
071 Tragen von Maschenware einmal eine kleine Revolution auslöste,
072 als Prof. Jägers Normalwäsche ihren sensationellen
073 Erfolg errang, der in der porösen Unterwäsche von heute noch
074 weiterlebt und gewissermaßen eine der Dauererrungenschaften der
075 modernen Zivilisation geworden ist. Europäischen und
076 amerikanischen Arbeitern ist diese Wäsche derart
077 selbstverständlich geworden, daß sie nach der Arbeit und im
078 Hause ohne weiteres im Unterhemd bleiben, das also für die
079 " kleinere " Geselligkeit durchaus akzeptabel ist und zeitweise in
080 gewisser Weise sogar eine Art von beruflicher Symbolfunktion für
081 den Arbeiter im Gegensatz zum Angestellten aller Kategorien hatte.
082 Ungleich wichtiger als die Porosität dieser Gewebe ist aber
083 ihre Eigenschaft, sich den Körperformen plastisch anzupassen.
084 Im Augenblick, da mit der Betonung der natürlichen
085 Körperformen, zum Beispiel der weiblichen Brust, neue
086 ästhetische Reize verbunden wurden, mußte diese alte
087 Gewebetechnik einen neuen, glanzvollen Aufstieg erleben. Vor der
088 weiblichen Büste stehen aber die Waden des Mannes. Das
089 entscheidet über die ganze erste Entwicklungsperiode der
090 Maschenmode, die einwandfrei seit dem 13.Jahrhundert
091 nachgewiesen ist. Dazu kam noch, daß viel früher noch als für
092 die anderen Gewebe schon 1589 eine Strickmaschine von William Lee
093 erfunden wurde, die schnell mehrere Verbesserungen erfuhr und
094 erstaunliche Leistungen vollbrachte. Diese Maschine ist
095 verantwortlich für die erste weltweite Verbreitung der Maschenmode.
096 Allerdings hatte sie damals eine Funktion, die durch die
097 Gesamtlinie der Mode diktiert und in Schranken gehalten war. Die
098 Maschenartikel kamen nicht für sich allein, sondern meist nur im
099 Zusammenhang mit dem allgemeinen Bekleidungsstil zur Geltung, in
100 der einfachsten Weise als Strümpfe für Männer und Frauen,
101 dann als Kniestrümpfe (mit Bundhosen) und schließlich auch als
102 Strumpfhose vor allem für Männer. Die Strumpfhose hob auch
103 gern des Geschlechtsglied des Mannes besonders hervor, das in
104 einem eigenen Sack deutlich sichtbar und übertrieben vergrößert
105 getragen wurde, und zugleich seine Waden. Auch diese müssen eine
106 Art von geschlechtlicher Prunkfunktion gehabt haben, wie der
107 weitreichende Gebrauch falscher Waden beweist, die wohl genau die
108 gleiche Bedeutung damals hatten wie ausladende Büstenhalter und
109 falsche Busen (falsies) heute bei der weiblichen Jugend. Es ist
110 interessant zu vermerken, daß eine weibliche Strumpfhose (außer
111 ihrer professionellen Verwendung bei Tennisspielerinnen und
112 Balletteusen) erst in unseren Tagen zu allgemeiner Bedeutung
113 gekommen ist, seit der kürzere Rock und besonders der " Minirock "
114 ein unmittelbares Bedürfnis dafür geschaffen haben. Nach
115 ihrer ersten Blüte in der Männermode fiel aber die Maschenmode
116 zunächst eine Zeitlang in Vergessenheit, nachdem die langen
117 Hosen der demokratischen Industriekultur die aristokratischen
118 Bundhosen verdrängt hatten und den Strumpf auf die mindere
119 Existenzform der Socke reduziert hatten, die bei der Bauern
120 bevölkerung und Arbeiterbevölkerung anfänglich (und bei der
121 Armee noch lange) durch die sogenannten " Fußlappen " ersetzt
122 wurde. Man erkennt daran wieder einmal, wie lange es dauerte und
123 wie vieler Umwege es bedurfte, bis die Uniform des modernen
124 Mannes vollendet war. Aber seit dem letzten Drittel des 19.
125 Jahrhunderts erlebt die Maschenmode plötzlich einen neuen
126 Entwicklungsimpuls, der sich sofort in sehr verschiedenen Formen
127 und Verwendungsweisen ausprägt. Dieser neue Aufstieg wurde
128 gleichzeitig seit den sechziger Jahren durch eine neue und
129 leistungsfähigere Maschine unterstützt, nämlich die
130 Strickmaschine von Lamb. Jetzt erst erleben wir es, wie in
131 wenigen Jahren fast gleichzeitig eine ganze Reihe neuartiger
132 modischer Kreationen entsteht, die seither allgemein zum modischen
133 Inventar des modernen Menschen gehören. Abgesehen von den
134 verschiedenen Formen poröser Unterwäsche (verschieden nach
135 Material und Schnitt, bis zur delikatesten, hauchdünnen, fast
136 nur eine Verstärkung der Haut darstellenden Luxuswäsche für
137 Frauen) wächst der Maschenware mit dem zur gleichen Zeit sich
138 entwickelnden Massensport eine völlig neuartige Verwendungsweise
139 als Trikot. Von hier aus bildet sich auch der
140 Sammelbegriff der Trikotagen. Die Trikotkleidung für Sportler
141 wird seit den achtziger Jahren des 19.Jahrhunderts ein fester
142 Bestandteil der Zweckkleidung des modernen Menschen. Wir
143 vergessen das allzu leicht, wenn wir die für unseren Geschmack
144 grotesken Dessins und Zuschnitte dieser alten Trikots betrachten,
145 die bestenfalls noch als Karnevalskleidung eine trübe Nachexistenz
146 fristen (mit oder ohne Streifen), nachdem für Männer und
147 Frauen immer ansprechendere Modelle entwickelt worden sind, die
148 eigenen modischen Strömungen unterliegen. Diese hängen
149 natürlich zumeist mit den großen Ereignissen der Sportwelt, den
150 Olympiaden, zusammen, die heute die gleiche
151 Signalfunktion haben wie früher die großen Feste und
152 Triumphzüge. Dazu kommen dann noch die Kreationen und
153 Entschlüsse einzelner Persönlichkeiten des Sports, wie etwa die
154 französische Tennismeisterin Suzanne Lenglen als erste im kurzen
155 Röckchen ohne Strumpfhose spielte und damit auch im weiblichen
156 Sport das nackte Bein akzeptabel machte. Zum Sporttrikot gehört
157 natürlich auch das Badekostüm, eine völlig neuartige Schöpfung
158 (denn früher gingen die Menschen entweder nackt oder mit vollen
159 Kleidern ins Wasser). Auch dies Kleidungsstück erlebte eine
160 rapide Entwicklung, die von monströsesten Formen, von Rüschen
161 und halblangen Pumphosen verunstaltet, bis hin zu einer der
162 einzigartigsten Kreationen unserer Zeit reicht, dem " Bikini "
163 als der letzten Konsequenz in der Entwicklung des zweiteiligen
164 Badekostüms. Es gibt übrigens in den Mosaiken einer römischen
165 Villa von der Wende des 3.zum 4.Jahrhunderts in Piazza
166 Armerina (Sizilien) ein Vorbild für den Bikini, das speziell
167 die Bauchpartie der Mädchen stark herausmodelliert. Dies
168 entspricht zugleich einer neuen Form erotisch-ästhetischen
169 Empfindens, für das die sonnengebräunte Haut des weiblichen
170 Körpers mit ihren samtenen Lichtern eine Bedeutung gewonnen hat
171 wie nie zuvor. Dem weiblichen Bikini entspricht der männliche
172 " Slip ", der endlich der alten lappigen Dreiecksbadehose unserer
173 Großväter eine ansprechende Form gegeben hat, die ohne das neue
174 Material gar nicht möglich gewesen wäre. Das ist aber nicht
175 alles. Wer Sport sagt, sagt auch immer Jugend.
176 Allgemein entwickeln sich die neueren Moden in Richtung der
177 Betonung der Jugendlichkeit, was gleichzeitig einen relativ
178 billigen Preis fordert, dem die Massenfertigung entgegenkommt.
179 Damit eröffnen sich ganz neue Möglichkeiten der modischen
180 Selbstgestaltung, bei denen die Maschenmode noch einmal ihre
181 große Chance bekam. Entscheidend ist jetzt aber, daß sie nicht
182 mehr ein modisches Akzessoire bleibt, das sich mit dem begnügt,
183 was man ihr übrigläßt, sondern sie erhält selbst einen modischen
184 Führungscharakter. Es ist dabei auffällig, daß die Sortimente
185 dieser neuen Kleidungsstücke sich sofort in großer Breite
186 entfalten, die von der billigsten Massenware bis zu ausgesprochenen
187 Luxusfertigungen reicht. Das ist ein völlig neuer Zug im
188 Ausbreitungsstil der heutigen Moden; denn früher kamen solche
189 Differenzierungsprozesse erst zustande, nachdem ein beliebiges
190 Kleidungsstück über längere Zeit vom Publikum akzeptiert worden
191 war. All das gilt in ausgeprägtem Maße für den Pullover,
192 vielleicht das repräsentativste Kleidungsstück unserer Zeit,
193 das übrigens Männern und Frauen gemeinsam ist. Seit dem Ende
194 des Ersten Weltkriegs begann er seinen unwiderstehlichen Siegeszug
195 in der Welt, der am Ende des Zweiten Weltkriegs in den Kellern
196 von Saint-Germain-des-Pr‚s durch Juliette
197 Greco einen neuen Impuls erhielt. Anfangs war der Pullover
198 Ausdruck eines gelockerten Lebensgefühls, das freie
199 Beweglichkeit für den Körper suchte und weder durch enge und
200 beengende Westen noch durch Jacken aus schweren gewebten Stoffen
201 belastet werden wollte. Dann aber wurde der weibliche Pullover
202 auch Symbol eines neuen erotischen Empfindens, das in unbefangener
203 Selbstdarstellung die Brust als das sichtbarste sekundäre
204 Geschlechtsmerkmal der Frau in der Kleidung nachmodelliert.
205 Dabei veränderte sich allgemein die Körperhaltung der Frau. Im
206 Gegensatz zur mittelalterlichen Körperhaltung, die ebenfalls in
207 erotischer Absicht den Unterbauch stark vorschob und dafür die
208 Schultern einfallen ließ, so daß die Brust als
209 Geschlechtsmerkmal verschwindet oder gar weggebunden wird, geht das
210 junge Mädchen von heute mit eingezogenem Leib und offenen
211 Schultern, so daß die Brüste dekorativ herausstehen und sowohl
212 durch den Büstenhalter wie durch den Pullover noch stärker
213 unterstrichen werden. Bei taillierten Kleidern ohne Ärmel tritt
214 die Schulterpartie mit den frei sich wölbenden Oberarmen hervor,
215 deren erotische Funktion wie die der Brüste unabweisbar ist.
216 Für den Mann hat das gleiche Kleidungsstück eine ganz andere
217 Bedeutung, die vor allem der Lockerung des Alltags dient und
218 dementsprechend nicht so sehr im Berufsleben, sondern insbesondere
219 in der Freizeit Verwendung findet. Damit leistet der
220 Pullover seinen entscheidenden Beitrag zur Entbürgerlichung der
221 modernen Wirtschaftswelt, wobei nur die Frage offenbleibt,
222 wieweit es gelingen wird, die modische Entsagung des männlichen
223 Geschlechts damit allmählich einer neuen Lebensform
224 aufzuschließen. Vorläufig scheint eine klare Trennung der beiden
225 Welten für viele selbstverständlich zu sein. So gilt in der
226 Berufswelt für die meisten noch immer die alte puritanische
227 Uniform mit ihrem Affekt gegen alles Modische, das als unsolide
228 und unseriös angesehen wird. Das ändert sich erst in dem
229 Augenblick, da die Männer aus ihrem Berufsleben heraustreten,
230 am Feierabend, am Wochenende, während der Ferien, auf Reisen.
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